Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
»besteht die Gefahr von Geistererscheinungen?«
»Bevor ihr über Wesen aus anderen Welten streitet«, unterbrach Bernhard Spring, »lest bitte folgende Liste durch und sagt mir, ob euch irgendetwas auffällt. Es sind die Gegenstände, die wir im unteren Stockwerk im Müll gefunden haben.«
- Polaroidfoto eines Kindes im Kinderwagen
- ein einzelner Damenschlittschuh
- ein Bündel ungelesener Anzeiger für die Stadt Bern
vom 3. März 2009
- eine asphaltverklebte Schaufel
- eine Preisliste liturgischer Gegenstände aus dem Vati-
kan
- ein Taschenbuch ›Karate für Anfänger‹
- die eine Seite einer von oben nach unten zersägten
Holzleiter, eventuell Theaterrequisiten
- ein SBB-Fahrplan 2008
- diverse Lappen und Tücher mit frischen und einge
trockneten Blutflecken (liegt im Labor für DNA—
Tests)
- neun Büroklammern
- eine Videokassette ›Die neun Pforten‹ mit Johnny Depp nach dem Roman ›Der Club Dumas‹ von Arturo Pérez-Reverte unter der Regie von Roman Polanski
- ein Plastikkamm mit Haarresten
- eine zerrissene Jeans, Damengröße
- zwei nicht zueinander passende Socken
- ein Eintrittsbillett für das Science-Fiction-Museum ›Maison d’Ailleurs‹ in Yverdon, 5. Mai 2009
- eine Schifffahrtskarte Lausanne–Evian retour,
27. Mai 2009
»Starker Bezug zur Westschweiz, würde ich sagen«, meinte Heinrich, »aber nichts besonders Auffälliges.«
»Ich habe eine tolle Idee«, sagte Pascale Meyer.
»Wie war das mit dem ägyptischen Phantom, das sich heutiger Menschen bedient?«, witzelte Spring, denn Pascales Ideen waren gefürchtet.
»Ihr werdet schon sehen«, freute sie sich bereits, »sobald wir konkretere Hinweise auf den Täter haben, locken wir ihn aus seinem Bau. Ich ruf gleich Cäsar Schauinsland an. Er soll etwas vorbereiten. Kann ich dieses Foto haben?«
Sie hatte das am wenigsten entstellte Tatortbild ausgesucht.
»Mehlstaub, grünes Metall und schlechtes Licht«, sagte Cäsar Schauinsland, als er hinter Herrn Augsburger, dem Besitzer der Mühle Eymatt bei Hinterkappelen durchs erste Stockwerk ging. Die Mühle, ein massiver Sandsteinbau, in den oberen Etagen mit verputztem Gebälk, lag am unteren Ende des Abhangs, durch den der Gäbelbach in den Wohlensee floss. Von diesem Wasser wurde eine der beiden Turbinen gespeist, die direkt über breite Lederriemen den Antrieb der Mahlwerke sicherte, ohne den Umweg über das Erzeugen von elektrischem Strom. Wenn das Wasser knapp war, half ein Stauweiher, der eine zweite Turbine antrieb.
Nebenan arbeitete Marco Repetto an einem seiner Studioprojekte. Geschmeidige Loops und knackige Beats vibrierten in der feuchten Luft und riefen Erinnerungen an Millionen Jahre alte Mooswälder und sprechende Bäume wach, Jahrzehnte entfernt vom Grauzone-›Eisbär‹.
Diese Mühle sollte Cäsar fotografisch dokumentieren, der Heimatschutz zeigte Interesse daran, allerdings auch der Besitzer. Schauinsland hatte Pascale Meyer zu diesem Ausflug eingeladen, weil sie noch etwas zu besprechen hatten.
»Die Mühle ist etwa 120 Jahre alt«, erklärte Herr Augsburger, dessen Familienwappen ein Einhorn zierte, was Cäsar mit Erstaunen feststellte, kam dieses Fabelwesen auf Schweizer Wappen doch höchst selten vor.
»Nebenan steht ein Gebäude, das wohl früher als Mühle gedient hat, die mit einem Wasserrad betrieben worden ist. Das Mahlen des Getreides mit Mühlsteinen erzeugt sehr viel Hitze, die dem Mehl einen gerösteten Geschmack verleiht. Der fehlt bei den kühlen Stahlmühlen. Heute funktioniert alles automatisch, vom Einfüllen des Getreides in die Silos bis zum Abfüllen des Mehls.«
Ein nur dem Eingeweihten einsichtiges, weit verzweigtes Röhrenwerk durchzog die drei Stockwerke, Ansaugrohre aus den Silos, Fallrohre für das Korn auf das Mahlwerk, Ableit-und Verteilrohre für das Mehl, das zu den Rüttelsieben geführt und dort in die Feinheitsgrade sortiert und auf neue Mühlen zurück gesogen wird, schließlich alles in die Sackabfüller geblasen, 50-Kilogramm-Säcke, die dann auf die Sackrutsche aus Blech dürfen. Früher waren Rohre wie Rüttelsiebbehälter wie Sackrutsche aus edlem, poliertem Holz, damit keine Splitter ins Mehl gerieten. Anschließend ab ins Lager oder direkt auf die Lastwagen.
Daneben einzelne museumsreife Maschinen. Auf der einen wurde vor der Marktliberalisierung und der Aufhebung der Mengenbeschränkung das Mehl für einen einzelnen Bauern gemahlen, weil der doch nur sein eigenes Mehl wieder mit nach Hause
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