Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
nehmen wollte und keinesfalls jenes des Nachbarn, dem er nicht traute.
Der Müller erklärte den Mahlvorgang, die ideale Feuchtigkeit der Körner (17 bis 18 Prozent), er redete vom Kleberanteil und von der Veraschung, mit der die Qualität der Ausmahlung festgestellt wurde, Pizza-, Semmel-, Weiß-, Halbweiß- und Ruchmehl sowie Kleie stand auf den Säcken, die Schauinsland fotografierte. Augsburger sprach vom Pflichtlager, von der Produktionsmenge und von der Abhängigkeit der Bäckereien von den Großmühlen, und er zeigte den beiden eine Spezialmaschine, auf der die Schale der Getreidekörner mit Wasserdruck weggeputzt wurde, was ein sauberes Korn ohne Schadstoffbelastung zum Mahlen für die Produktion der Steinmetz-Mehle hinterließ.
Pascale lachte.
»Du sollst dich auf die Lehre des Getreides einlassen, sollst dich inspirieren lassen vom Korn, das seinen Weg durch die Mahlwalzen findet und als feines Pulver vom Wind verteilt wird, luftig und locker statt schwer und erdig. Genauso wünsche ich mir deinen Auftritt, als Ariel, der Luftgeist, der über die Hügel fegt.«
»Staub zu Staub, Asche zu Asche«, murmelte der Künstler. »Ich glaube, wir können was machen.«
»Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen«, sagte die Polizistin und küsste ihren Liebsten auf die Nase. »Ich hätt’s lieber Althochdeutsch:
ben zi bena
bluot zi bluoda
lid zi geliden
sose gelimida sin.«
Zwei Broccard-Kätzchen, die offenbar vom Müller angestellt waren, um die Mäuse vom Korn fernzuhalten, lauschten den seltsamen Worten, spitzten die Ohren, um sie kurz darauf wieder anzulegen. Ein genauer Beobachter hätte sich vielleicht gefragt, ob die Tiere sich an das frühere Leben im Fachwerkgemäuer, das ehedem einsam am Wasserrad gestanden hatte, erinnern konnten. Ob sie an das wilde fahrende Volk dachten, die leichten Mädchen, die ungebundenen Kerle und ihr nächtliches Singen, Dichten und Lieben. Und ob sie dabei gewesen waren, wenn sich die Frauen in Katzenwesen verwandelt hatten, oder ob sie selber dazugehörten und nur auf den richtigen Augenblick warteten, um mit den andern zum unheimlichen Fest auf die Alp Seefeld zu ziehen. Arglos senkte sich Cäsars Hand auf das gesträubte Fell der einen Katze und erntete ein entrüstetes Fauchen.
Montag, 13. Juli 2009
Es gibt für eine Gegend nichts Erfreulicheres als einen großen, berühmten Künstler. Der erfrischt nicht nur das Gemüt der Einheimischen, sondern zieht viel Publikum aus allen Regionen des Landes bis weit ins Ausland hinein an. Außerdem fördert er über seinen Tod hinaus die Beschäftigung, sei es für Ausstellungsmacher, Kunsthistoriker, Postkarten-und Buchverleger. Der heutige Vermarktungsmechanismus macht vor nichts mehr Halt: Pralinen werden nach diesem Mensch benannt, eine Weinabfüllung, ein Brot und eine Wurst tragen dessen Namen, ja sogar ein Käse heißt wie er. So kommt der Künstler letztlich in aller Munde.
So ein Künstler stellte seine neuen Werke an der Galeriewand im Bauch & Kopf aus. Allerdings würde es noch Jahrzehnte dauern, wohl bis lange nach seinem Ableben, bis er für die Stadt Bern zu einem Publikumsmagneten werden würde. Falls überhaupt. Dazu allerdings benötigte Lino Frosio nicht nur das Styling eines Spätpunks mit schwarz gefärbter Igelfrisur, einem Piercing an der Unterlippe und dunklen Augenringen, was zwar eine gewisse Schar von Jüngerinnen und Jüngern anzog. Das eigentliche Dilemma war die Glaubwürdigkeit seiner künstlerischen Aussage, denn er malte eine abstrahierte Form von Kornkreisen und behauptete, diese würden zu gegebener Zeit von der Sirius-Konstante aktiviert und zu Relais-Stationen für Außerirdische.
Heinrich Müller erinnerten die Bilder an unscharfe Schwarz-Weiß-Reproduktionen in einem Ausstellungskatalog der Siebzigerjahre, als er noch wie besessen den Galerien nachgejagt war und kaum eine Vernissage verpasst hatte, wobei er sich weniger für das Künstlervolk und seine Entourage interessierte als für das oft opulente Buffet und den trinkbaren Wein. Tempi passati. Heute ließ er den Weißwein in der Hand warm werden, bevor er ihn in einen Blumentopf goss, während er verstohlen den Frauen auf die Beine starrte in der Hoffnung, die eigene Jugend sei mehr als nur eine vage Erinnerung gewesen.
An Lino Frosio hatten sich zwei knapp zwanzigjährige Naturblondinen herangemacht und behielten ihn im Zentrum ihrer Bewunderung, indem sie mit ihren kleinen, aber vollen Lippen, die sie in regelmäßigen
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