Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
IMAX-Version drehen.« Coudrays Begeisterung kehrte zurück. »Sie haben das Murtener Schlachtpanorama im Monolith an der Expo.02 gesehen?«
Beide nickten.
»Stellen Sie sich vor: Alle Menschen werden um Sie herum lebendig. Sie stehen plötzlich mittendrin. Und Sie beobachten nicht nur das Schlachtgetümmel, sondern Sie hören alle Rufe, das Schreien, die Schläge von Holz auf Metall, Kanonendonner. Sie sehen so viel, dass Sie den Film mehrfach anschauen können und jedes Mal etwas Neues entdecken.«
Spring blieb skeptisch.
»Nun habe ich noch ein anderes Problem«, ergänzte Coudray. »Die Sequenz, in der ein Mensch stirbt, kann ich nicht verwenden. Anschließend mussten wir den Dreh abbrechen. Ich sollte deshalb die ganze Komparserie noch mal mit denselben verschmutzten Requisiten aufbieten und mit dem gleichen Wetter und Licht weiterdrehen können. Das ist allein wegen der fortgeschrittenen Jahreszeit unmöglich. Es gibt nur eine Lösung: Die gesamte Schlacht noch mal von vorn. Teuer!«
»Wenn ich das richtig interpretiere«, schloss Müller, »gibt es für Sie aus diesem Zwischenfall keinerlei Profit?«
»Wie meinen Sie das?« Coudray starrte ihn entgeistert an.
»So, wie ich es gesagt habe. Sie profitieren nicht vom Tod des Thomas Däppen oder von dem der Delia Zimmermann. Wie Sie eben geschildert haben, sind Sie sogar der Leidtragende, zusammen mit der Filmproduktionsfirma.«
»Von dieser Seite habe ich das Ganze noch nicht betrachtet«, sagte der Regisseur verblüfft.
»Es fehlt ein Motiv, das Sie zum Verdächtigen machen würde«, ergänzte Spring. »Seien Sie froh!«
»Haben Sie ernsthaft geglaubt, ich hätte mich verkleidet, ins selbst inszenierte Schlachtgetümmel geworfen, einen Mann erschossen und gleichzeitig Regie geführt?«
»Nun ja«, Müller schluckte, »es liegt an unserer Arbeit, dass wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen, bis wir nicht vom Gegenteil überzeugt sind. Immerhin wussten Sie am besten, wo sich die einzelnen Darsteller aufhalten würden. Sie hätten also auch einen Tipp geben können.«
Coudrays Blick ließ darauf schließen, dass er Heinrich Müller für einen Irren hielt.
»Kommen Sie her, nehmen Sie Platz«, sagte er schließlich und deutete auf zwei Stühle vor einer weißen Wand. Er schaltete einen Beamer und den Laptop ein.
»Ich führe Ihnen nun die Rohfassung der fraglichen Szene vor, und zwar aus allen gefilmten Winkeln. Wir gehen der Sache nun auf den Grund.«
Bald bewegten sich die Komparsen in der schlammigen Wiese, und als die Feldschlange sichtbar wurde, stellte Coudray auf den Einzelbildmodus um. In einer überwältigenden Qualität sah man jedes Detail, nicht zu vergleichen war mit der Vorführung im Bauch & Kopf.
»Ich bin beeindruckt und deprimiert zugleich«, sagte Müller.
»Wieso das?«, fragte Coudray.
»Das Bild ist derart detailgetreu, die Varianten so finessenreich, dass ich mich frage, wie Sie mit all den zusammengewürfelten Kostümen leben können.«
»Das ist der künstlerische Kompromiss zwischen auszugebendem Geld und Wahrheitsanspruch. Oder«, seine Stimme wurde brüchig, »eine filmische Katastrophe, wenn Sie so wollen. Konzentrieren wir uns aufs Wesentliche.«
Hinter der Feldschlange, die nicht abgefeuert werden sollte, da der Ladestock noch aus dem Rohr ragte, kauerte eine gut geschützte Gestalt, die Kapuze über den Kopf gezogen, wie sie es schon bei der ersten Visionierung bemerkt hatten.
Thierry Coudray zoomte den entscheidenden Bildausschnitt heran, sodass die gezeigte Hand beinahe die ganze Wand einnahm. Bevor sie zu einzelnen Pixels verschwamm, betrachteten die drei die Form des Handschuhs, die Größe der Hand, die Länge der Finger.
»Eine Frau«, flüsterte der Regisseur.
Freitag, 17. Juli 2009
Nicole Himmel und Pascale Meyer betraute man damit, die Wohnungen der beiden getöteten Berner noch einmal anzusehen. Natürlich waren beide von der Spurensicherung bereits in Augenschein genommen worden. Wesentliche Erkenntnisse hatte sie aber keine gewonnen, denn die Morde hatten nicht in den Behausungen, sondern sozusagen auf freiem Felde stattgefunden.
Die beiden Frauen begannen mit dem Bauernhaus-Loft im Westen von Bern. Thomas Däppens Geschwister drängten seit Tagen auf die Freigabe der Wohnung, damit der Vertrag endlich aufgelöst und die spärlichen Einrichtungsgegenstände verwertet werden konnten.
Thomas Däppen hatte das Problem der Möblierung auf eine radikale Art gelöst. Neben einer Matratze, die auf dem
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