Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
Boden lag und Staub und Schimmel unter sich begrub, hatten Milliarden von Milben freie Sicht auf einen riesigen Fernseher, der wohl den ganzen Tag lang ununterbrochen auskotzte, was die Programmverantwortlichen als das Maß aller Unterhaltung empfanden.
»So ein Teil habe ich noch nie gesehen«, sagte Pascale Meyer. »Bestimmt ein Plasmabildschirm, mindestens 120 Zentimeter Diagonale, 10.000 Franken.«
Sie schaltete das Gerät ein. Die beiden starrten auf den Fernseher. Ein paar Frauen in hautengen Shirts spielten einen Ball über ein hohes Netz. Nach jedem gelungenen Wurf wurde das Spiel unterbrochen, damit sich die Ladies die Kleidung zurechtzupfen und sich gegenseitig in die Hände klatschen konnten. Für eine der Tätigkeiten gab es Punkte, aber sie fanden nicht heraus, für welche.
»Was suchen wir genau?«, fragte Pascale Meyer und schaute sich in der beinahe leer geräumten Loft um. Nur ein riesiger Raum, eine kleine Küche in der Ecke. »Es hat wohl zwischen der Haussuchung durch Bernhard, der Spurensicherung und unserer Anwesenheit noch jemand die Wohnung besucht und gründlich ausgeräumt.«
»Aber kein Dieb«, stellte Nicole fest, »der hätte als erstes den Fernseher von der Wand gehängt.«
»Vielleicht war er oder sie zu Fuß unterwegs, in diesem Fall fällst du natürlich auf, wenn du so was mit in den Bus nimmst.«
»Irgendwie verfolgt mich der immer gleiche Gedanke: Die Lösung des Rätsels liegt nicht in dem, was wir sehen, sondern in dem, was nicht oder nicht mehr da ist.«
»Ich glaube«, sagte Pascale, »du hast den Sinn für Realität vollends verloren.«
»Nicht völlig«, widersprach Nicole, »aber wenn du mir noch ein paar Tage Zeit lässt …«
Sie fuhren zurück in die Stadt und parkten vor dem Schloss, in dessen Anbau Delia Zimmermann gewohnt hatte. Die Einrichtungsgegenstände standen noch an Ort und Stelle und es schien, als ob die Besitzerin gleich zurückkehren würde. Nur eine dünne Schicht Staub hatte sich über alles gelegt wie ein fein gesponnenes Leichentuch.
Ehrfurchtsvoll schlichen sie durch die Zimmer, bemüht, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Sie betraten Orte, zu denen Heinrich Müller bei seinem früheren Besuch keinen Zugang gehabt hatte, und bewunderten das Schlafzimmer, eine Ansammlung von Ungeheuerlichkeiten. Der Nachttisch war die ausgebaute Kühlerhaube eines Opel Manta. Fehlte nur der Fuchsschwanz an der Antenne.
Pascale entdeckte im Wohnzimmer ein Regal mit Büchern, Videos, CDs und DVDs.
»Schau mal«, rief sie Nicole zu. »Alles, was man zum Überleben braucht.«
Es gab Dokumentationen zu Getreide, Backbücher aller Art zum selben Thema, die Geschichte von Brot und Bier, mehrere Bildbände über Kornkreise und zudem die Ausstellungskataloge aus dem Bernischen Historischen Museum von der alten Ausgabe über die Burgunderbeute bis hin zum Prachtband über die letztjährige Ausstellung zu Karl dem Kühnen. Videos und DVDs zur Teppichknüpfkunst und zur Geschichte von Textilien sowie Berichte über die Burgunderkriege und das Hexenwesen ergänzten die Bestände.
»Ich sollte ein wenig mehr Respekt für den Leiter der Detektei Müller & Himmel an den Tag legen«, sagte Pascale Meyer.
»Warum das denn?«, fragte Nicole Himmel leicht eifersüchtig.
»Wenn ich das hier vor mir sehe, kommt mir der leise Verdacht, er könnte von Anfang an Recht gehabt haben, als er die verschiedenen Fälle miteinander verknüpfte. So viele zufällige Übereinstimmungen kann es kaum geben.
Sie trafen sich gegen Abend in der Pergola von Bauch & Kopf. Es war ein warmer Tag, die Leute waren noch nicht vom Baden zurück, sodass auch Leonie Platz nahm und die Tagesüberraschung präsentierte.
»Während ihr böse Menschen jagt, habe ich investiert.«
Auf dem Tisch verhüllte ein blaues Tuch einen Gegenstand. Theatralisch zog Leonie langsam und vorsichtig das Tuch weg. Zum Vorschein kam ein geräumiges, geschliffenes Glas, das auf einem 20 Zentimeter hohen Sockel aus Zinn ruhte, der die Form einer sich elegant drehenden Jugendstiltänzerin besaß. Obenauf lag ein glockenförmiger, schwerer Zinndeckel, dessen Abschluss eine umgekehrte Eichel bildete. Im Glas schwappte Eiswasser, darunter waren vier Hahnen bereit, das Wasser in Gläser zu tröpfeln.
»Eine Absinthe-Fontaine!«, jubelte Leonie und war bald zurück mit dem Extrait d’Absinthe Angélique von Claude-Alain Bugnon aus Couvet im Val de Travers.
»72 Prozent Alkohol«, warnte sie. »Die Gläser unter die
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