Heinrich Mueller 05 - Mordswein
mindestens ein paar Schnitte und Schürfungen?«
»In die Richtung.«
»Beidseits zerrissene Kleidung, beide Beine verschmutzt, aber keine Hautverletzungen. Das entspräche nicht den Erwartungen?«
»Bestimmt nicht«, sagte der Große. »Mit 60 in einen rostigen Zaun und anschließend auf den Asphalt geschleudert, da bleibst du benommen und jammernd liegen. Du weißt vielleicht nicht mal mehr, wie du heißt.«
Aber es sollte nicht die letzte böse Überraschung des Tages bleiben. Kurz nachdem die beiden Polizisten Springs Büro verlassen hatten, stürzte der Polizeichef in den Raum.
»Sind Sie nun von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte er. »Haben Sie Ihre Leute noch im Griff?« Dann knallte er die abendliche Gratiszeitung auf den Tisch und zeigte auf die Schlagzeile: »Porno vor 100 Jahren!«
Mit einem Verweis auf Seite 3 wurde der Text von Richard Lesclide über das Sündenbabel Bern angekündigt.
»Und wissen Sie, wer den Text den Untersuchungsunterlagen entnommen und der Presse zugespielt hat?«, schrie der Chef weiter. »Ich habe mich nämlich erkundigt.«
»Sagen Sie es mir«, stammelte Bernhard Spring.
»Ihre blitzgescheite Assistentin Pascale Meyer. Die Frau ist ab sofort vom Dienst suspendiert! Bis die Sache geklärt ist, kann sie sich sonst wo aufhalten, aber nicht mehr in diesen Räumlichkeiten. Und wenn Sie Ihre Untergebenen nicht besser unter Kontrolle haben, können Sie Ihr Kündigungsschreiben aufsetzen.«
Damit stampfte er wie ein Kaltblüter aus dem Zimmer. Wenn man es genau betrachtete, ein blaues Pferd von Franz Marc, wie eins im Kunstmuseum hing.
Donnerstag, 5.8.2010
»Die Polizei ist bestimmt nicht so dumm, wie gewisse Leute glauben. Ich bin auch nicht so dumm, wie gewisse Leute glauben. Es mögen dieselben Leute sein. Das macht die Sache nicht besser. Gehen Sie mit mir folgende Rechnung durch: Auf der Todesliste stehen 20 Namen. Zwei weitere Opfer sind längst von diesem Leben erlöst. Wenn Sie nun diese beiden Zahlen multiplizieren, dazu die Zahl der Verdächtigen nehmen und nun zwei Mal die Quersumme rechnen, kommen Sie auf die bisherige Zahl der Opfer.
Sollte die Lage eskalieren, ist einzig die Polizei daran Schuld, denn niemand sonst konnte Details der Vorgänge an die Presse übermitteln, wie z. B. den Schalldämpfer. Die nächsten Opfer werde ich von hinten erledigen müssen, da sie auf ihrer Vorderseite aufmerksam sein werden. Allerdings bringe ich niemanden gerne um, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Aber weil immer etwas schiefgehen und ich keine Zeugen brauchen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als mit verschiedenen Hilfsmitteln zu agieren. Geben Sie sich im Übrigen keine Mühe, verschwenden Sie Ihre Kräfte nicht, denn den Schalldämpfer habe ich bereits vor einigen Jahren in einer europäischen Großstadt erworben.
Wie ich höre, haben Sie auch den Lesclide erhalten? Lesen Sie ihn aufmerksam. Übertragen Sie Ihre Erkenntnisse auf heute, und Sie werden Spuren finden.«
Bernhard Spring mochte zwar Rätsel, lieber aber war es ihm, wenn man Klartext redete. Denn er kannte keinen Untersuchungsrichter, der aufgrund von Zahlenspielen und von literarischen Dokumenten Haussuchungsbeschlüsse oder gar Haftbefehle ausstellte.
Müller musste her. Der hatte den Text gelesen und sollte seine Schlüsse daraus ziehen.
Und Müller kam. Er kam sofort, als ob er hinter der nächsten Ecke auf den Anruf des Störfahnders gewartet hätte.
»Dieser Richard Lesclide spielt offenbar doch eine bedeutende Rolle in unserem Fall«, eröffnete Spring das Gespräch.
»Nicht in unserem Fall«, erwiderte der Detektiv, »sondern in der Vorstellung des Mörders. Es ist ja nicht der Autor, der interessant ist, sondern der Auszug aus seiner Erzählung. Bern glich also damals, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, einem Sündenpfuhl, in dem Frauen aus aller Herren Länder verfügbar waren.«
»Entspricht das der Realität?«, wollte Spring wissen.
»Keine Ahnung«, antwortete Müller. »Es ist ein literarisches Dokument. Ich habe den Eindruck, es hätte jede Stadt genannt sein können. Dass es ausgerechnet im kleinen Bern eine derartige Massierung von Edelprostituierten aus der ganzen Welt gegeben haben sollte, halte ich für unwahrscheinlich. Aber vielleicht ist das gerade der Schlüssel zu unserem Fall.«
»Keiner der beiden Getöteten hat aber Beziehungen zur Unterwelt unterhalten – so weit wir bisher feststellen konnten.«
»Dennoch muss hier ein Zusammenhang bestehen,
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