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Heinrich Mueller 05 - Mordswein

Heinrich Mueller 05 - Mordswein

Titel: Heinrich Mueller 05 - Mordswein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Lascaux
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mit ihrem Comedy-Punk-Pop mischten ›Bauch & Kopf‹ für die nächsten Stunden auf. Kein Wunder, entwickelten sich die folgenden Dialoge:
    »Mindestens die Hälfte, wenn nicht sogar 80 Prozent des menschlichen Lebens ist virtuell«, erläuterte Heinrich Müller, »besteht aus Vorstellungskraft, aus Lug und Trug. Wenn wir nur schon überlegen, womit wir unsere Freizeit bestreiten: Filme, Bücher, Musik, Spiele, alles imaginäre Welten, die jemand erfunden hat und die wir in unser eigenes Leben übernehmen.« {17}
    Nicole Himmel konterte: »Soll mir keiner sagen, das seien allein menschliche Eigenschaften. Katzen beispielsweise spielen mit Gegenständen, die sie selber finden (welke Blätter) oder die ihnen ihre Dosenöffner hinhalten (Schnüre), in diesem Fall ein gegenseitiges Sich-Unterhalten und Unterhalten-Werden.«
    »Wenn wir aus der Freizeit auf den Alltag zurückblicken, stellen wir leicht fest, dass wir geneigt sind, unsere Erfahrungen aus der virtuellen Welt zu übertragen. Man will erleben, was Film-und andere Helden bereits vorgeführt haben. Man möchte das schnelle Auto ohne Geschwindigkeitsbeschränkung ausfahren, man will auf die Trauminsel in den Urlaub fliegen, man zielt mit der Pistole auf Menschen, man lässt sich zu neuen Ideen beim Sex anregen, man glaubt an die romantische Liebe zum idealen Partner, an das ewige Idyll. Dass sich wenig davon ins reale Leben umsetzen lässt, besagt noch gar nichts, denn die Hoffnung besteht, dem wunderbaren Erlebnis so nah wie möglich zu kommen, es vielleicht doch in naher Zukunft zu erhaschen.«
    »So wird uns beständig etwas vorgelogen«, fuhr wiederum Nicole weiter, »Illusionen werden geweckt und aufrechterhalten. Die Werbung lebt davon, die Unterhaltungsindustrie, die Politik und die Religionen, die überhaupt die größten Illusionisten sind, da es ihnen gelungen ist, uns ein zweites Leben vorzugaukeln und die Erfüllung aller Hoffnungen dorthinaus zu beamen. Enttäuscht jemand unsere Erwartungen der Rundumbetreuung in einer Welt des Glücks und der Verheißungen, lassen wir ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Wer unsere Sehnsüchte bedient, kann damit reich werden. Heilsbringer jeder Art, Esoteriker, religiöse und politische Führer, Schauspieler, Sportler, manchmal sogar Krimiautoren.«
    Jetzt hatten sich die beiden in Fahrt geredet. »In einigen Fällen allerdings führt die Illusion zum Tod, nämlich dann, wenn die virtuelle Welt die wirkliche überdeckt, wenn zu viele Hoffnungen verletzt worden sind und man den Verursacher zu kennen glaubt.«
    Spring griff ein: »Wenn man Wolfsfallen baut und Menschen an literarischen Orten, also in Geburtshäusern von virtuellen Welten, erschießt.«
    »Eine Flasche Château Pisse-en-lit«, schrie einer, ein anderer: »Ein Glas Acid Ridge aus dem Water Valley«, und ein dritter wollte einen Halben »Kratzberger Klosterbuam«.
    Leonie aber ließ sich nicht beirren und tischte ein paar Flaschen Château Labégorce 1996 aus dem Margaux auf, Purpur im Glas, mit minimem Ansatz zu Brauntönen am Rand, der dunkel nach Kellern voller schwarzer Beeren roch, mit rundem und vollem Geschmack und schweren Aromen von Cassis und Leder.
    Jemand bat Nicole, den Briefkasten zu öffnen, in den die Gäste jeweils Zettel mit bemerkenswerten Namen und Berufen warfen, und einige davon vorzulesen. Sie folgte der Bitte, erklärte dann aber: »In letzter Zeit kriege ich Dutzende von tollen Vorschlägen, aber inzwischen gibt es Listen dafür im Internet, und die meisten werden dort abgeschrieben. Der Reiz ist also etwas verloren gegangen. Wir lassen es für heute. Ich lese euch dafür vor, was Isabel Allende zu geschlossenen Denksystemen zu sagen hat, nachdem sie als Journalistin eine Reportage über die Wirksamkeit der Schwarzen Magie in Venezuela geschrieben hatte: ›Die Personen, die sich als Zielscheiben von Voodoo-Riten fühlten, fingen an, irre zu reden und grässliche Körperflüssigkeiten abzusondern, ihnen wuchsen Beulen am Hals, und die Haare gingen ihnen aus; die andern dagegen, die in seliger Ahnungslosigkeit verblieben, lebten glücklich wie zuvor.‹ {18} «
    »Man muss sich also innerhalb eines bestimmten Systems bewegen, um von den Phänomenen betroffen zu sein?«, wollte Spring wissen.
    »Nicht ausschließlich«, erklärte Nicole. »Das System ist nicht in sich genügsam, es besitzt durchaus das Potenzial zum Wandel, sonst gäbe es die Katholische Kirche längst nicht mehr. Außerdem tauschen sich Systeme aus, sowohl was

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