Heinrich Mueller 05 - Mordswein
für mich selbst. Ich glaube aber, dass auch die Bakterien lieber unter sich bleiben, denn immerhin sind sie der mächtigste lebende Organismus überhaupt, sie bedecken die Erde mit einem Gewicht, das demjenigen von allen anderen Lebewesen zusammengenommen entspricht. Also sind die Bakterien die Herrscher der Erde. Und das ist gut so, denn Menschen wie Hubert Welsch und Henri Knecht haben es nicht anders verdient, als von den Bakterien ihrer Erde aufgelöst zu werden. Es waren zwei schlechte Menschen, und so es mir gefällt, werden andere schlechte Menschen wie sie gerichtet werden. Der Staat hat die Gerechtigkeit aus der Hand gegeben, himmlische Rache ist nicht zu befürchten. Wer also sollte in diesen Fällen für die Ehre der Menschheit kämpfen, wenn nicht einsame Helden wie ich selbst?
Das war nun ein bisschen Ironie, das haben Sie hoffentlich bemerkt. Denn natürlich bin ich kein Held. Helden machen Fehler, weil sie auf sich aufmerksam machen. Ich koste meinen Triumph ganz still in meinem Kämmerlein aus. Ich lese ein gefälliges Buch, schaue mir einen beruhigenden Film an und denke daran, dass meine Gerechtigkeit gesiegt hat. Sie sehen, dass ich nach wie vor zwischen meiner Gerechtigkeit und derjenigen der Öffentlichkeit unterscheiden kann, auch wenn ich am Anfang nicht den Anschein erweckt habe. Haben Sie die Wolfsfalle inzwischen analysiert? Und den Dürrenmatt gelesen? Ihre Schlüsse gezogen? Wie könnte die nächste Tötung ablaufen? Welche Instrumente werde ich verwenden? Wo wird sie stattfinden? Und wer wird das Opfer sein?«
Spring blieb ratlos zurück.
»Unser Täter hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis«, erklärte er Heinrich Müller am Telefon. »Aber ich kriege den Sinn seiner Texte nicht richtig zu fassen. Er scheint sich zwar über uns lustig zu machen. Aber das wäre nicht nötig, ohne sich zugleich der Gefahr auszusetzen.«
»Glaubst du wirklich, dass er wieder zuschlagen wird?«
»Frag mich etwas Leichteres«, sagte Spring. »Er deutet es an. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass er mit uns ein Spiel treibt. Er tippt nur weniges an, das uns in den beiden ersten Fällen helfen könnte, schwadroniert dann aber über Gerechtigkeit und stellt nicht beantwortbare Fragen.«
»Wir sollten ihn aus der Reserve locken«, meinte Müller. »Ich überleg’ mir was.«
Heinrich trat in die Pedalen, denn er hatte beschlossen, seinen Bewegungsdrang mit Rad fahren unter Kontrolle zu halten wie weiland Jochen Senf als Kommissar Palü im Tatort Saarbrücken. Gleichzeitig lüftete er so sein Gehirn. Vor ihm fuhr eine junge Frau. Ihre langen Beine bewegten sich rhythmisch. Genau die richtige Geschwindigkeit für die nächsten zwei Stunden, dachte Heinrich und bewunderte den schmalen Streifen Haut zwischen den Jeans und einem engen Trägershirt, über das die wilden, noch feuchten dunklen Haare bis in die Mitte des steifen Rückens wehten. Der Duft frischen Shampoos befeuchtete seine Lunge. Das Ergebnis einer beglückenden Liebesnacht.
Müllers Gedanken schweiften ab in die Zeit seiner Jugend Anfang der 70er-Jahre. Gab es noch Strümpfe mit Fallmaschen, Schweißhemden aus Nylon, Augenschmerzmöbel aus dem Warenlager, Meccano-Spielzeug und rosa Häschenpantoffeln? Tiki Brauseschaumtabletten hatte man für Nostalgiker wieder auf den Markt geworfen, genau so wie Vivi-Kola. Wann kam die Renaissance von verkehrt herum getragenen Lammfellmänteln und Flokatiteppichen in grellen Farben?
Nicole brütete derweilen über Sekundärliteratur zum Schweizer Krimi. Sie begriff sehr wohl, dass es eine gewisse Zeit brauchte, bis man eine These formuliert hatte, die man dann ausarbeiten und die häufig auch noch im universitären Rahmen akzeptiert werden musste. Deswegen konnte man wohl kaum stets mit den neusten Krimis arbeiten, über deren literarische Qualität möglicherweise noch keine Einigkeit herrschte. Aber musste es immer die Liste Loosli, Glauser, Dürrenmatt sein, ergänzt vielleicht mit einem einzigen neueren Beispiel? Das alles lag nun mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Kannten denn diese Germanisten nichts anderes, oder waren sie zu faul zum Lesen?
Immerhin gab es da Brigitte Frizzoni mit ihren ›Verhandlungen mit Mordsfrauen‹, eine Studie über »Geschlechterpositionen im ›Frauenkrimi‹«, mit sehr kompliziertem wissenschaftlichem Einstieg, der wohl die Legitimität der Untersuchung dokumentieren sollte. Aber auch hier referierte die Autorin zu sehr auf die Anfänge des Durchbruchs der
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