Heinrich Mueller 05 - Mordswein
eine Geschichte: »1862 hob der Kanton Zürich das weinselige Kloster Rheinau auf, übernahm den Weinvertrieb selber und gründete im ehemaligen Barfüßer beim Obergericht die Staatskellerei – gleich neben dem Armenspital, in dem der Zürcher Wein auch als Desinfektionsmittel und zum Leichenwaschen gebraucht wurde. Bier und Milch verdarben schnell, Wasser war stets keimverseucht. Der Wein war das hygienischste Getränk. Das Franziskanerkloster hatten sich die weltlichen Stadtherren schon nach der Reformation unter den Nagel gerissen. Die Gründungsakte der neuen Staatskellerei unterschrieb der Staatsschreiber und Dichter Gottfried Keller, der einem Glas zu viel selbst nicht abgeneigt war.«
»Ich schau mich noch ein wenig im Ort um«, verkündete Heinrich, »heute Nachmittag soll im Restaurant ›Zwietracht‹ ein Theaterstück gegeben werden.«
Die Kneipe hatte ein gemütliches Säli, wenn einen militärische Effekte nicht störten. Heinrich saß unter einer Hellebarde, an der noch das Blut eines Burgunders klebte. Und der Wirt, der mit zackigen Schritten den Raum betrat, fragte schroff nach seinem Begehr.
Zwei erwartungsvolle Augenpaare scannten den Raum und blieben auf ihm hängen.
»Ich bin nicht der, den ihr sucht«, sagte der Detektiv, als sich die beiden Damen zu ihm setzten.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte die eine.
»Das wird sich herausstellen«, die andere.
Es war eine Krimikomödie von Paul Lascaux angekündigt mit dem Titel ›Tabea Mondschein‹, was auf gar nichts schließen ließ.
»Geheimnisvoll«, seufzte die jüngere der beiden Damen.
»Abwarten«, brummte der Detektiv.
Die Hauptperson war aber Lisi, ein schlank und üppig gewachsenes Mädchen, strotzend von Gesundheit, mit schönen roten Backen und kräftigen Armen, weißen Zähnen und heitern Augen, aus denen Lustigkeit und Sinnlichkeit glänzten. Es war ein wahres Modell eines natürlich fröhlichen, gesunden Landmädchens, solange es nüchtern war; später aber brannte eine Sinnlichkeit, die unbändig, aber doch nicht wüst ward.
Es fing unterhaltsam an, die Laienschauspieler gaben ihr Bestes, die Kostüme waren gut gewählt und passten zum Retro-Stil, der das Stück in die 30-Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückbeamte.
»Als der liebe Gott Fräulein Berkessel erschuf, hat er vergessen, an ihrem linken Auge das Lid zu heben«, sagte eine der beiden Hauptdarstellerinnen, die Heinrich gerne genauer voneinander unterschieden hätte, aber er nutzte die Zeit und die Gelegenheit, die doch zahlreich anwesende Einwohnerschaft einer genaueren Musterung zu unterziehen.
Es ging um eine drittklassige Schauspielerin, die sich zu Höherem berufen fühlte und sich unter nicht genau geklärten Umständen von Gaunern einwickeln ließ, die sie in einem Schrebergarten versteckt hielten, bis die Hebamme Lichtweiß mit dem Karabiner auftauchte, um ein paar Spatzen zu erschießen, »die Ratten der Lüfte«, wie sie es ausdrückte. Da erschrak auch Müller, denn das Gewehr hatte einen derartigen Krach gemacht, dass jede Konzentration verloren gegangen war.
Es war jedoch ein Doppelschlag gewesen, und so viele Spatzen gab es nun auch nicht zu erschießen. Draußen hatte sich der Himmel blauschwarz verfärbt, und ein weit entferntes Wetterleuchten näherte sich rasend schnell dem Dorf am Nordufer des Sees. Bald goss es wie aus Kübeln, dann setzte ein kräftiger Hagel ein, der einen verheerenden Zug durch die Rebberge nahm.
Alles stürzte zu den Fenstern, keine Chance, das Theaterstück zu einem geordneten Ende zu bringen. Jeder hoffte darauf, dass seine Reben verschont würden.
Als der Spuk, der keine zehn Minuten gedauert hatte, zu Ende war und sich der Himmel ebenso rasend schnell wieder aufklarte, hielt es keinen auf den Sitzen. Alle eilten aus der ›Zwietracht‹ auf die Straße und suchten ihre Reben nach Schäden ab. Wie durch ein Wunder waren die neu gebauten Terrassen heil geblieben. Ein Sturzbach ergoss sich aus dem mittleren Weinberg, aber es war niemand da, um den Schaden zu beklagen.
»Wem gehören diese Reben?«, wandte sich der Detektiv an den Nächststehenden und zeigte auf die schmale Schneise, die der Hagelzug offenbar verwüstet hatte.
»Vor der Rebgüterzusammenlegung«, fing der ältere Mann einen ausführlichen historischen Exkurs an, von dem man fürchten musste, er gehe bis ins zwölfte Jahrhundert zurück, »vor der Rebgüterzusammenlegung also gehörten sie einem Ernst Glauser, der sie aber vor ein paar Jahren
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