Heinrich Spoerl
er mit boshafter Geschwindigkeit von Ziffer zu Ziffer und frisst unsere Stunden. Die schönen am schnellsten, sie schmecken ihm am besten.
Wenn man nach Frankreich fährt, muß man seine Uhr zurückstellen. Man hat eine Stunde gewonnen. In New York sind es bereits fünf Stunden, in Frisko acht, und wenn wir um die Erde rund sind, ein voller Tag. Daraus können wir Nutzen ziehen. Wir setzen uns in ein Superflugzeug und fliegen mittags ab. In einer Stunde sind wir in Frankreich, dann ist dort gerade Mittag, in fünf Stunden in New York, ebenfalls Mittag, in acht Stunden in San Franzisko das nämliche. Wir fahren mit dem Mittag in vierundzwanzig Stunden um die Erde, immer wieder rund; es bleibt ewiger Mittag, die Zeit steht still, wir werden nicht älter und sehen einer ewigen Jugend entgegen.
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Man kann die Zeit auch rückwärts laufen lassen. Wenigstens im Film. Wir kennen die lustigen Trickaufnahmen, wo der kühne Springer aus den Fluten auftaucht, und in luftigem Bogen, von Geisterhänden getragen, auf den Sprungturm zurückschwebt. Noch schöner sind die Straßenaufnahmen, wenn Menschen, Tiere und Wagen rückwärtslaufen und trotzdem nicht karambolieren, beinahe unappetitlich der Gast, der das leere Bierglas an den Mund führt und vollaufen läßt, und mit der Gabel geheimnisvolle Bissen aus dem Munde holt und auf dem Teller zur soliden Gänsekeule zurückschmeißt.
Ein Film ist geduldig und Kummer gewöhnt und läßt sich rückwärtsdrehen. Nicht so die Zeit. Über ihr Wesen streiten die Philosophen, aber das eine weiß man genau: sie ist nicht umkehrbar. Das ist ihr Kennzeichen.
Auch Zeiten kann man nicht rückwärtsdrehen. Noch jede Zeit war mit sich unzufrieden und hat sich nach der ›guten alten Zeit‹ zurückgesehnt; Verfallzeiten am meisten. Aber noch keine hat den Weg dahin zurückgefunden. »Die Zeiten sind vorbei«, um einmal ein viel missbrauchtes Schlagwort zu bemühen. Es geht der Menschheit wie dem Menschen. Man träumt vom Jugendland und wird unerbittlich älter. Man kann sich kurze Hosen anziehen und mit Bleisoldaten spielen, Märchenbücher lesen und Schaukelpferd reiten: Man wird dadurch kein Kind. Unser Vorwärts kann kein Rückwärts sein.
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»Komm mich besuchen, wenn dein Schatten neun Fuß misst.« Das ist nicht Karl May bei den Sioux, sondern das alte Hellas, das sich auf diese Weise zu Gast lud. Man ersieht daraus zunächst, daß dort prinzipiell die Sonne schien; es war ein helles Land. Ferner, daß man es mit der Zeit nicht genau nahm. Man hatte genug davon. Arbeiten taten die Sklaven. Und schließlich: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Sogar seine eigene Sonnenuhr.
Heute haben wir Chronometer und Sternwarten und Rundfunk und Normaluhren für den, der seine goldene Taschenuhr im Augenblick nicht momentan hat, und die Knirpse im Hofgarten fragen nicht mehr: Mann, wie viel Uhr dat et is? Unsere Zeit ist auf der Höhe.
Um so merkwürdiger, wenn wir unsere guten Präzisionsuhren absichtlich verstellen. Manchmal um zehn Minuten zurück, dann soll die Uhr als Entschuldigung dienen, beim Chef, bei der Gattin. Manchmal auch eine Viertelstunde vor; dann will man sich etwas weismachen, sich zu Pünktlichkeit zwingen. Aber da man Bescheid weiß, zieht man die Viertelstunde in Gedanken wieder ab, und alles bleibt beim alten. Zieht sie vielleicht auch dann ab, wenn die Uhr von unberufener Seite inzwischen richtig gestellt wurde. Außerdem bin ich mißtrauisch gegen Leute, die zu sich selbst kein Vertrauen haben.
Die Uhren in der Küche sind besonders geplagt. Man kann die Mädchen in drei Sorten einteilen: Die die Uhr in Ruh' lassen und nicht einmal aufziehen, die sie vorstellen, die sie kaputt machen.
Ich meinerseits brauche keine Uhr, ich richte mich nach dem Rhythmus meiner Umwelt. Wenn der Bäckerjunge morgens im Hof nebenan die leeren Marmeladeneimer kegelt, weil er arbeiten muß, wenn andere noch schlafen, dann ist es sechs Uhr. Wenn es zweimal klingelt, ist es die Post und ein viertel nach acht. Wenn meine Zeitung kommt, halb elf. Wenn die Beamten das große Gebäude verlassen, ist es 12 Uhr 59. Wenn die Zeitungsmänner an der Ecke ihr Wettgebrüll erheben, halb fünf. Wenn ich Durst bekomme, ist es neun. Und wenn ich müde bin, gehe ich zu Bett.
Wir wissen auch ohne Uhr, was es geschlagen hat.
Verjährt
Es ist eine treffliche Einrichtung der Natur, daß auch die Zeit eine verkleinernde Perspektive hat: was in ferner Zukunft liegt, rührt uns nicht so sehr. Und was einmal
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