Heinrich Spoerl
ungeschminkt und genau so, wie sie es in Köln und in Koblenz erlebt hatten – oder richtiger gesagt: Wie es hier niedergeschrieben ist. Ob es sich auch genau so zugetragen hat, in Köln und in Koblenz, wer will das wissen?
Es ist auch ganz gleich. Wenn die Welt nur aus Tugend bestünde, dann hätten die Zeitungen nichts zu schreiben, die Zungen nichts zu reden, die Obrigkeiten nichts zu ordnen, die Krieger nichts zu kriegen, Staatsanwälte und Dichter gingen stempeln, und man stürbe vor Langeweile. Es ist erwünscht, daß jeder einmal über die Stränge schlägt – natürlich in allen Ehren, und soweit Platz vorhanden. So ist die Welt lustig, und es läßt sich darin leben.
Der Maulkorb
In der Nacht zum zweiundzwanzigsten August geschah jenes absonderliche Bubenstück, das noch heute allen Gutgesinnten eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
Am Tage vorher war noch alles in Ordnung. Hart und eckig in den silbrigen Morgenhimmel schnitt die Silhouette des Denkmals, das die dankbare Stadt ihrem derzeitigen Landesherrn errichtet hat. Auf wildsprengendem Streitroß stemmt sich steil und stolz die eherne Gestalt mit Helm und Harnisch und achtet nicht des grimmigen Drachen, der sich unter den Hufen des Hengstes zu Tode rollt und das traditionelle Aufsatzthema der Unterprima bildete.
Um das Denkmal brodelt der Wochenmarkt. Breite Bäuerinnen mit bunten Kopftüchern hocken an ihren Ständen und wärmen die roten Finger an bauchigen Kaffeetassen. Hochbusige Frauen und steif gestärkte Mädchen drängen sich durch die Reihen der Obst- und Gemüsekörbe, fragen Preise, handeln und gehen weiter. Dazwischen schlanke Offiziersfrauen mit hinterdrein trottenden Burschen, anspruchsvolle Junggesellen mit verschämten Lederköfferchen, wacklige Mütterchen mit kartoffelgefüllten Netztaschen, und über dem Ganzen ein weicher Wind vom Rhein und ein bunter Geruch von Gurken, Lauch, Äpfeln, Kohl und Sellerie.
Soweit war alles wie sonst.
Aber es lag etwas in der Luft. Die Bauern mit Schirmmützen und schwarzen Strickjacken, die sonst die Körbe schleppten und die Kartoffeln abwogen, kümmerten sich nicht um Karren und Bäuerin und standen in Flüstergruppen mit hochgezogenen Schultern, streckten die hageren Hälse vor und knautschten mit sandigen Fingern in einer Zeitung. Mitunter zeigten sie mit dem Daumen über die Schulter auf das Denkmal, hielten die Hände an den Mund und tuschelten aufeinander ein.
Woraus der Kundige ersieht, daß es um die hohe Politik ging.
Die Volksseele kochte, hier und allerorten. In den Büros steckten sie die Köpfe zusammen, auf den Bierbänken rückten sie enger zusammen, am Kaffeetisch rissen sie sich den Generalanzeiger aus der Hand.
Was steht in der Zeitung?
Nichts steht in der Zeitung.
Eben das ist es, was die Gemüter erregt. Wenn der Landesvater eine Rede hält, will man wissen, was er gesagt hat. Und wenn daran etwas nicht in Ordnung ist, wenn ihm beim Reden wieder einmal das Temperament durchgegangen sein sollte, will man erst recht wissen, wieso und warum. Darauf hat man ein verfassungsmäßiges Recht.
Die Zeitungen schweigen: Also stimmt etwas nicht. Der Flüstertelegraph arbeitet mit unheimlicher Fruchtbarkeit. Was man nicht erfährt, muß man erfinden. Aus Möglichkeiten werden Vermutungen, aus Vermutungen Tatsachen.
Morgens: Was wird er schon gesagt haben? Vielleicht wieder einmal etwas gegen die Kritik oder die Witzblattdichter.
Mittags: Haben Sie schon gehört? Gegen die ewigen Nörgler hat er gewettert, und auch von einem Dichter war die Rede.
Abends: Wie, das wissen Sie noch nicht? Stänker hat er gesagt, und auf ein gewisses Goethe Wort hat er angespielt.
Stänker gilt für alle. Hier fühlt sich jeder getroffen. Niemand hat ein reines Gewissen. Aber ist man darum ein Stänker? Ist das ›die Freiheit, die ich meine‹?
Und was ist mit dem gewissen Goethewort? Goethe hat man auf der Schule gehabt, in kleinen, sorgfältig ausgesuchten und gereinigten Portionen. Was mag noch alles in diesem Goethe stehen? Goethe ist immer verdächtig. Die Buchhändler verkaufen ihre verstaubten Klassiker und wissen nicht, wie ihnen geschieht. Und die Wirte haben ihren großen Tag. Die engen Beziehungen zwischen Politik und Alkohol sind wissenschaftlich noch nicht erforscht, aber unbestreitbare Tatsache. Es ist auch durchaus gleichgültig, ob die politische Betätigung den großen Durst und die großen Gemäße nach sich zieht, oder ob die großen Gemäße erst die politischen
Weitere Kostenlose Bücher