Heinrich Spoerl
Begabungen wecken und ins Ungemessene steigern. Vielleicht ist es auch eine gegenseitige Wechselwirkung, eine Art Rückkoppelung. Jedenfalls sind die bevölkerten Holztische von jeher die Pflegestätte geräuschvoller Untertanenpolitik. Die besseren Herren trinken Wein und wissen es besser.
Kleine Städte sind wie kleine Kinder. Sie werden zeitig zu Bett geschickt.
Als es auf Mitternacht ging, war die Erregung abgeklungen. Der »Ührige«, wo Fuhrleute und Regierungsräte im Stehen ihr Obergäriges trinken, hatte schon zugemacht, und auch die »Kanon« entließ ihre letzten Gäste und leierte die knarrenden Rolläden herunter. Der städtische Mann mit der Stange hatte bereits die Gaslaternen gelöscht; nur auf dem Markt und an den Straßenecken brannten noch einsame Lampen für die Späten. Ein herbstlicher Nachtnebel lag spiegelnd über dem Pflaster, und irgendwo zuckelte eine Droschke um die Ecke.
Polizeisergeant Drahtschnauz ging seine Runde.
Er hatte auch einen richtigen Namen, genau wie seine Kollegen Pulverkopp und Mittenmang. Aber den wußte niemand; vielleicht stand er im Adreßbuch. Das waren keine sehnigen Gestalten mit ehernen Gesichtern und unbestechlicher Sachlichkeit, sondern gutgenährte Leute mit roten Aufschlägen auf blauem Tuch und blitzenden Pickelhauben, Individualitäten, vielleicht auch Originale, jedenfalls aber unentbehrliche Inventarstücke ihres Reviers.
Drahtschnauz schritt wie immer auf der Mitte der Straße. Nicht aus Platzmangel. Er wollte sehen – und gesehen werden. Mit sanftem Machtbewußtsein hörte er das harte Klingen seiner Stiefel durch die Nachtstille Stadt.
Am Marktplatz stand noch ein Lichtspalt. Er kam aus der Weinstube Tigges am Treppchen, wo man wie gewöhnlich Überstunden machte. Diesmal recht lebhafte Überstunden; ein Gewirr heftiger Stimmen drang auf die Straße und fing sich zwischen den schallverstärkenden Häuserfronten.
Polizeisergeant Drahtschnauz gab sich alle Mühe, aber das konnte er nicht überhören. Er wollte es auch gar nicht, sondern zog seinen blauen Rock strammer über den Bauch und ging hinein. Ein Gemisch von Licht, Lärm und Rauch schlug ihm entgegen, und dann steht er vor einem runden Tisch, sieht wohlachtbare, angeregte Herren und volle Aschenbecher und leere Weinflaschen und hat den Herd der Übertretung ermittelt. »Verzeihen die Herren, aber ich muß doch dringend bitten … pardon, Herr Staatsanwalt, ich habe nicht gewußt, ich wollte natürlich –« Staatsanwalt von Treskow wendet den Kopf und sieht an den blanken Knöpfen empor. »Ich hoffe nicht, Herr Sergeant, daß die Rücksicht auf meine Person Sie in Ihrer Amtshandlung hindert.«
»O nein, gewiß nicht.«
Aber nun weiß der Polizeisergeant doch nicht, was er tun oder lassen soll. Dafür weiß es Frau Tigges. Sie weiß vor allem, warum der Herr Sergeant gekommen ist, und bringt ihm einen breiten Pokal grünen Mosels. Der Beamte schüttet ihn mit soldatischem Ruck in sich hinein, wischt die glitzernden Weinperlen aus dem drahtigen Schnauzbart, salutiert und hat seine Amtshandlung beendet.
Der runde Tisch will noch etwas von ihm wissen: Was er zum Beispiel tun würde, wenn jemand »Stänker« zu ihm sagte?
Der Polizist weiß es nicht. Er weiß vor allem nicht, ob man ihn aufzieht oder ihm eine Falle stellt, und lächelt dünn und vorsichtig. »Gewiß – ja – das heißt, wie man's nimmt – es käme natürlich ganz darauf an, wer das gewissermaßen sagte.«
»Volkesstimme!« brüllt der Tisch.
Als der Beamte fort ist, entflammt der Disput von neuem; gedämpfter, verbissener. Über den »Stänker« käme man noch hinweg, das ist wenigstens klar und eindeutig. Aber das ›große Goethewort‹ kann man nicht schlucken. Es gibt Ausgaben von vier, zehn und fünfundvierzig Bänden; viele Worte stehen darin, und alle sind groß. Welches ist gemeint? Und warum nennt er es nicht?
Das wilde Rätselraten geht weiter. Etwa: »Mehr Licht?« Wieso mehr Licht? Ist man ein Dunkelmann? Oder vielleicht: »Knurre nicht, Pudel?« Wer knurrt denn? Ist man ein Hund? Oder meint er am Ende – um es geradeheraus und mit Verlaub zu sagen – das Zitat aus dem »Götz«, das berühmte mit den Pünktchen?
»Meine Herren, ich bitte Sie! Das ist doch unmöglich, das kommt bei einem so hohen Herrn doch gar nicht in Frage, das wäre ja –« Aber wozu dann Goethe?
Also!
Sie lachen und hauen auf den Tisch und verschlucken sich vor Freude und Empörung.
Staatsanwalt von Treskow sitzt
Weitere Kostenlose Bücher