Heinrich Spoerl
von vorn und hinten, von oben und unten, in vollem und seitlichem Licht, mit bloßem Auge und scharfer Lupe:
Es war ein Maulkorb wie alle andern, ohne Namen, Firma und Kennzeichen. Und doch war ihm plötzlich, als komme ihm das Ding irgendwie bekannt vor. Natürlich, er hatte es seit gestern mehrfach gesehen. Aber das war es nicht; der Maulkorb schien ihm eigentümlich vertraut, beinahe heimisch, und der Geruch erinnerte ihn an August. Vielleicht riechen alle Hunde gleich, wenigstens für Menschennasen, und es gibt auch kein wissenschaftliches Mittel, diese Gerüche zu klassifizieren. Vielleicht war es nur sein fieberndes Gehirn. Aber er kam von dem Gedanken nicht los: er konnte den Maulkorb mit nach Hause nehmen und mit seinem eigenen vergleichen. Hoffentlich hat der sich inzwischen gefunden.
Und nun sah er im Gegenlicht zwischen den Riemchen ein eingeklemmtes kurzes Haar. Für einen Kriminalisten sind die kleinsten Dinge die interessantesten. Er nahm das Haar vorsichtig zwischen die Pinzette und prüfte es auf heller und dunkler Unterlage. Es war blond. Bei Hunden nennt man es gelb.
Auch sein August war gelb.
Er fühlte, wie ihm das Herz stehenblieb und seine Hände kalt wurden. Wenn es sein eigener Maulkorb wäre!
Was wäre dann?
Dann wäre dreierlei: Erstens, er hätte auf dem betrüblichen Nachhauseweg den Maulkorb verloren, und jener vaterlandslose Geselle hätte ihn, den staatsanwaltlichen Maulkorb, gefunden und zu diesem heimtückischen Bubenstück mißbraucht. Zweitens: Er, der Staatsanwalt von Treskow, würde in öffentlicher Verhandlung als Zeuge vernommen und seinen beklagenswerten Zustand auf dem Nachhauseweg offenbaren müssen. Drittens: Als Zeuge könnte er nicht Sachbearbeiter bleiben und müßte die Weiterführung und den Ruhm einem Kollegen überlassen.
Bei diesem Gedanken knirschte er mit den Zähnen. Dann nahm er das gefundene, kostbare Hundehaar in einem Briefumschlag in Verwahr und schrieb darauf:
Asservat zu 3 J 447/09.
Inhalt: Ein Haar, dem am Denkmal
vorgefundenen Maulkorb entnommen.
Tr.
Der Briefumschlag wurde den Akten einverleibt.
In seinem Kopf rauschte der Puls. Er legte das Aktenstück in seine Aktentasche, den Maulkorb in sein Behältnis und nahm beides mit nach Hause.
Nun hing alles an einem Haar.
An dem Haar, das er in der Sache gefunden hatte.
***
Auch zu Hause war die Stimmung etwas beschlagen.
Aber daran war nur die Trude schuld, weil sie wieder einmal vom Lyzeum einen Brief mitbekommen hatte. Frau Elisabeth war einiges gewöhnt, aber sie wunderte sich doch, als sie lesen mußte: Ihre Tochter Gertrud erhielt einen Eintrag ins Klassenbuch wegen grober Tierquälerei und Alkoholmißbrauchs.
»Was hast du gemacht, Trude?«
»Nichts.«
»Was ist mit der Tierquälerei?«
»Wir haben nur die Hühner gefüttert. Die Hühner von der Frau Direktorin.«
»So. – Womit habt ihr sie gefüttert?«
»Mit Brot.«
»Das ist doch keine Tierquälerei.«
»Nein.«
»Und was ist mit dem Alkoholmißbrauch?«
»Weiter nichts. – Das Brot hatten wir natürlich in Kognak getaucht.«
»Und da schämst du dich nicht?«
»Doch, sehr. – Du, Mutti, das muß ich dir mal erzählen, du kugelst dich.«
Frau von Treskow kam allerdings nicht dazu, sich zu kugeln, teils aus pädagogischen Gründen, teils weil die Haustür ging und der Papa nach Hause kam. Er sagte kein Wort und ging sogleich auf sein Zimmer. »Ich möchte nicht gestört werden.« Das war das einzige, was er sagte.
Dann rief er August zu sich herein.
August war ein geduldiger und langmütiger Hund. Er hätte sich für seinen Herrn in Streifen schneiden lassen. Aber warum ihm jetzt ein Haar ausgerupft wurde, und ausgerechnet an der Schnauze, wo es besonders weh tut, das vermochte August nicht zu erkennen. Er beantwortete die Prozedur mit einem schmerzhaften Seufzer und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit das Kommende.
Treskow nahm das frisch gerupfte Haar und das am Maulkorb gefundene, ging damit dicht unter die Lampe und verglich. Aber seine Hände zitterten, die beiden Haare fielen zu Boden, auf den Teppich.
Das kostbare Beweisstück darf nicht verlorengehen. Treskow sucht und kriecht auf dem Boden herum. August sucht mit und schnüffelt, er hält es für ein neues Spiel. Treskow aber ist verzweifelt. Auf dem Boden liegen viele Haare; dafür sorgt August. Es ist hoffnungslos.
Treskow sieht es endlich ein und schreibt auf den weißen Umschlag, der die Kostbarkeit enthalten hatte:
Asservat ging durch
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