Heinrich Spoerl
Tigges ist nicht protokolliert, der Referendar ist nicht mitgekommen, und Frau Tigges will es sich noch mal überlegen. Wenn man es geschickt anfasst, zerrinnt es im Sande. Noch ist er Staatsanwalt, noch hat er die Fäden in der Hand und kann sie wieder verwirren. Nicht jeder Täter hat das Glück, sein eigener Staatsanwalt zu sein.
Wieder versucht er zu lachen. Diesmal gelingt es beinahe. Dann aber bläst er seine traumhaften Gedanken fort und atmet tief. Und das durch Generationen in Pflicht und Disziplin geschulte Beamtengehirn schnappt ein und arbeitet wie ein Präzisionsmechanismus.
Er weiß, was ein Treskow zu tun hat. Er ist ganz ruhig, seine Hände zittern nicht mehr. Er räumt seinen Schreibtisch auf, nimmt sein persönliches Eigentum an sich, die kupfergetriebene Aschenschale, den nie benutzten Brieföffner, das bronzegerahmte Familienbild, stellt die Bücher gerade und die Stühle zurecht. Im Schrank hängt seine schwarze Samtrobe mit dem Barett; das mag hier bleiben, er wird es nicht mehr brauchen.
Dann geht er zum Obersekretär und liefert die Schlüssel ab.
Draußen warten noch die beiden Leute, respektive Männer.
Sollen wiederkommen.
Sie tun aber sehr dringlich.
Bedaure.
Treskow betrachtet sich als nicht mehr zuständig, nicht mehr im Amt befindlich. Er nimmt seine Maulkorb-Akten, Hut und Mantel und begibt sich zu seinem Oberstaatsanwalt.
***
Der Herr Oberstaatsanwalt ist nicht anwesend. Er befindet sich auf einer Inspektionsreise und wird am Nachmittag um vier zurück sein.
Eine einfache Tatsache, durchaus nichts Ungewöhnliches. Aber sie geht Treskow nicht in den Kopf; er kann nicht warten, kann die Sache nicht länger mit sich tragen.
Er weiß genau, was kommt. Es ist gewissermaßen amtlich vorgeschrieben. Der Oberstaatsanwalt wird erschüttert sein, aber Haltung bewahren, ihm vielleicht mitleidvoll die Hand drücken und leise den grauen Kopf schütteln. Dann wird er kühl das Dienstliche erledigen, ein kleines, inhaltschweres Protokoll aufnehmen, ihn vorläufig des Amtes entheben und einen anderen Kollegen mit der Bearbeitung der Sache und der Erhebung der Anklage betrauen. Verhaften – nein, verhaften wird man ihn nicht. Und dann wird die Verhandlung kommen, und man wird ihn verurteilen, vielleicht wegen sinnloser Trunkenheit freisprechen. Sofern er es bis dahin überhaupt kommen läßt.
Er weiß alles im voraus und kann es doch nicht erwarten. Ihm ist zumute wie einem Verurteilten, dem man morgens auf dem Schafott eröffnet, daß der Herr Scharfrichter erst nachmittags um vier kommen wird.
Treskow geht nach Hause. Langsam. Er hat Zeit, viel Zeit, fast fünf Stunden. Vor der Haustür bleibt er stehen. Man wird ihm etwas anmerken. Natürlich wird man es ihm anmerken. Trude wird fragen; Elisabeth wird in ihn dringen, und er wird nicht ausweichen können. Mit sich selbst wird er fertig werden, aber wie soll er es ihnen beibringen? – Er steckt den Schlüssel wieder ein und kehrt um. Er will nicht ins Haus; jetzt nicht. Vielleicht später. Er wird in der Stadt essen, in einem Gasthaus, wo man ihn nicht kennt. Auch das ist nicht nötig, er hat keinen Hunger, wird nichts herunter bekommen.
Er wird spazieren gehen. Die frische Herbstluft tut ihm gut. Sein Kopf wird freier. Aber nun sieht er alles noch deutlicher, unerbittlicher. Er will nicht denken; er braucht es auch nicht, es wird sich alles automatisch abspielen. Er läuft sinn- und planlos durch die Stadt, kommt in Straßen, die er nicht kennt, sieht graue, traurige Häuser mit kahlen Fenstern und dürftigen Vorhängen, verwahrloste Kinder, die haufenweise auf der Straße spielen und ihm etwas nachrufen, was er nicht versteht. Er kommt an Baustellen und Plätze, auf denen Müll und Unrat abgeladen wird, an geteerte Bretterzäune mit albernen Kreideaufschriften. Er befindet sich in dem Gürtel, wo die Stadt schon aufhört und das Land noch nicht beginnt.
Er hat sich müde gelaufen und kehrt um. Da ist ein staubiger Kinderspielplatz mit ein paar armseligen Bäumchen, die einen durchlöcherten Schatten auf den schwarzen Boden werfen. Auf den Bänken haben die Kinder ihre Sandförmchen ausgestülpt. Treskow wandert weiter; er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Schließlich geht er in eine Vorstadtkneipe, fällt müde auf einen Stuhl und bestellt sich einen Kognak, den er nicht trinkt. Er ist der einzige Gast. Eine dicke Frau hinter dem Schanktisch liest Zeitung und betrachtet ihn neugierig. Er passt nicht hierher; für was
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