Heirate keinen Arzt
weiches Herz und aufrichtige Bewunderung. Im Spital waren sie mir freilich auch schon begegnet, ich hatte sie bei ihren Bruchleiden behandelt, sie wegen ihrer Krampfadern beraten, ihre pfeifenden Bronchien abgehört. Damals hatte ich jedoch nur eine Seite ihres Daseins zu sehen bekommen. Erst jetzt, nach einem halben Jahr eigener Praxis, die mich in ihre Häuser führte, begann ich das öde, tägliche Einerlei zu erkennen, das für sie das Leben bedeutete; die schwere Waschbütte, die montags unzählige Male hochgehoben, gefüllt und wieder geleert werden mußte; lange Stunden am Schüttstein oder Bügelbrett ließen schmerzhafte, geschwollene Venen entstehen, und Vernachlässigung der eigenen Gesundheit in der Sorge für eine vielköpfige Familie ohne ausreichende Geldmittel führte zu tuberkulösen Lungen. Oft gab es keine Medizin für mich zu verschreiben, es gab nichts, das sechs Wochen fern der Familie nicht heilen würde, und so hörte ich denn, so mitfühlend ich nur konnte, den nüchternen Berichten zu. Wem sonst konnten sie sie auch erzählen? Die Nachbarn waren nicht gesonnen, sie sich anzuhören, ohne zum Entgelt dafür ihre eigenen Beschwerlichkeiten auszubreiten; die Ehemänner wollten nichts als sich regelmäßig den Magen füllen, die Kinder hatten an nichts Interesse. Sie waren nette, im großen ganzen wenig klagende Menschen, meine Arbeitermütter, und ich betrachtete meine Zeit und das Geld des Staatsgesundheitsdienstes als gut angelegt, wenn sie nur ein wenig glücklicher aus der Sprechstunde fortgingen, als sie gekommen waren.
Zuweilen ging die Klaglosigkeit mir zu weit. Wie oft schon hatte ich seit Beginn meiner Tätigkeit unter ihnen voller Schrecken eine Frau mit heftiger Lungenentzündung und 40 Grad Fieber zum Sprechzimmer hereinkommen oder eine akute Blinddarmentzündung feststellen müssen, die schon vor Stunden hätte operiert werden sollen! Dafür wurden in der Regel zwei Entschuldigungen vorgebracht. Entweder hieß es: »Ich wollte Sie nicht belästigen, Herr Doktor, wo ich doch weiß, wieviel Sie zu tun haben« oder: »Ich hab’ nicht drauf geachtet, weil ich einfach nicht von der Arbeit weg kann.« So manches Mal konnte ich nicht mehr tun als solch eigensinnige Patientinnen überreden, sich zu Bett zu legen, oder ihnen die Notwendigkeit der sofortigen Überführung ins Krankenhaus mit dringenden Worten vorzustellen. All mein Reden hatte oft keinen anderen Erfolg, als daß sie mir entgegenhielten1, sie hätten niemand, der nach den Kindern sehen könnte, ja sogar, sie müßten erst nach Hause gehen, weil sie das Mittagessen aufgesetzt hätten. Mehr als einmal hatte Mrs. Little rasch zur städtischen Siedlung laufen müssen, um das Gas unter dem Eintopfgericht abzudrehen oder eine Nachbarin ausfindig zu machen, die sich der Kinder annehmen würde, solange die Mutter auf dem Operationstisch lag. Immerhin aber blieben die arbeitenden Mütter, abgesehen von solchen Beschwerden, die ihre Arbeit mit sich brachte, im allgemeinen recht gesund. Durch ihr hartes Leben waren sie selbst hart geworden.
Es war die höhere Einkommensklasse, welche, von den im Staatlichen Gesundheitsdienst vorgesehenen Erleichterungen reichlich Gebrauch machend, ein weiter gedehntes Netz von Gesundheitsstörungen zu spinnen wußte. In ihrer Gruppe stieß ich neben den allen Menschen gemeinsamen Beschwerden auf die nicht organisch bedingten Kopfschmerzen, die schlaflosen Nächte wenig ermüdeter Gehirne, die Kinder, die nicht essen wollten. Nie begegnete ich einem Kind, das nicht essen wollte, in Häusern, wo kaum genug zu essen für alle da war. Diese Klasse war es, von der meine Zeit am meisten in Anspruch genommen wurde. Es waren Leute, die ich in meinen Assistententagen im Spital kaum je zu sehen bekommen hatte: Leute, die nie Kopfweh hatten, ohne daß ihnen davon »der Kopf zersprang«, keinen Schnupfen, bei dem sie nicht »zerflossen«, die nie andere als »unerträgliche« Schmerzen verspürten. Ihnen bedeutete jeder Husten gleich eine Tuberkulose, jede Magenblähung ein Herzleiden, jeder benommene Kopf einen Gehirntumor. Das alles kostete mich so viel Zeit, weil in der Medizin auch der Neurotiker nicht einfach abgeschoben werden kann, und weil nirgends geschrieben steht, daß ein Patient, der jahrelang mit seinen eingebildeten Beschwerden ein leeres Geschrei gemacht hat, nicht eines schönen Tages wirklich ein organisches Leiden mit ähnlichen Symptomen bekommen kann. Man konnte nie zu vorsichtig sein, und
Weitere Kostenlose Bücher