Heiraten für Turnschuhträgerinnen
Atemzüge lang das Gesicht ins Kissen. Unsere Klingel klingt ein bisschen so, wie wenn man bei Geh aufs Ganze den Zonk kriegt. Ich atme ein, dann ziehe ich meine Pyjamahose hoch und schlurfe zur Tür.
Trööööt!
»Hallo?«, sage ich mit genervter Stimme in die Gegensprechanlage. Seit wann kommt denn die Post so früh?
»Ich bin’s, Kristin.«
Kristin.
Ohne zu antworten, drücke ich den Knopf. Das Brummen des Türöffners ist durch das ganze Treppenhaus zu hören. Ich komme nicht auf die Idee, auch die Wohnungstür zu öffnen. Ich stehe im Flur wie ein Gorillaweibchen mit amputiertem Hirn.
Kristin? Was will Kristin um alles in der Welt? Hier? Von mir? In aller Herrgottsfrüh?
Es ist nämlich so: Ich habe noch eine andere beste Freundin. Kristin sehe ich allerdings nicht so oft wie Lala, vor allem nicht, seit sie in dieser Neubau-Dachgeschoss-Wohnung im Wedding lebt, die so minimalistisch eingerichtet ist, dass darin nicht einmal ein Sessel steht. Sie ist da hingezogen, weil ihr, nachdem sie von Prenzlauer Berg nach Mitte, von Mitte nach Kreuzberg und von Kreuzberg nach Neukölln gegangen ist, inzwischen sogar Neukölln zu hip und oberflächlich geworden ist. Das kann man nur verstehen, wenn man weiß, dass Kristin schon der Anblick einer Latte macchiato trinkenden Frau in Sommerkleidung too much ist. Kristin trinkt ihren Kaffee schwarz und dreht selbst, aber ohne Filter. Sie trägt ausschließlich schwarze Hosen zu schwarzen Pullovern über schwarzen T-Shirts, eine Kombination, die sie allerhöchstens mal durch ein khakifarbenes Hemd aufbricht. Sie hat kurze schwarze Haare und kurze, dunkelrot lackierte Fingernägel, Rouge Noir von Chanel, der einzige Luxus, dem auch sie regelmäßig erliegt. Und sie ist sehr dünn, aber nicht aufgrund irgendwelcher Schönheitsideale, die sie ohnehin am liebsten verbieten würde. Sie ist dünn aus Prinzip. Mit fünfzehn ist Kristin Vegetarierin geworden, isst seitdem ausschließlich Demeterprodukte und schimpft auf das Aldi-Bio-Zeug, dessen Herstellungsrichtlinien sie verlogen findet. Und sie hat kein einziges H&M-Teil mehr gekauft, seit die ersten Gerüchte aufkamen, dass die Sachen in Kinderarbeit hergestelltwerden. Von diesen Gerüchten hat sie sehr früh erfahren, denn sie machte damals ein Praktikum bei einer Produktionsfirma für TV-Reportagen und Dokumentarfilme, die bekannt für ihre relevanten Themen ist. Heute ist sie dort angestellt. Kristin findet es wichtig, sich politisch oder kulturell zu engagieren, und sie sieht es gern, dass ich als freie Journalistin fürs Feuilleton schreibe, Ausstellungen und Bücher rezensiere. Wenn sie wüsste, dass ich den Großteil meines Gelds damit verdiene, Broschüren und Anzeigen für einen Kosmetikkonzern zu texten – sie würde mir die Freundschaft kündigen. Na ja, immerhin werden die Produkte des Konzerns ohne Tierversuche hergestellt.
Kurzum: Kristin ist genau das, was ich eigentlich wäre, wenn ich nicht so einen fetten, bequemen Hintern hätte. Diesmal meine ich das im übertragenen Sinn.
Denn eigentlich empfinde ich mich durchaus auch als politischen Menschen, immerhin haben Kristin und ich zusammen Soziologie studiert, Nebenfächer: Afrikanistik und Politik. Und als sie mir von dem H&M-Skandal erzählte, habe ich natürlich ebenfalls aufgehört, dort Kleidung zu kaufen. Aber nach ein paar Monaten habe ich eingesehen, dass alle bezahlbaren T-Shirts dieser Erde in Kinderarbeit hergestellt werden und die Klamotten aus Dritte-Welt-Läden hässlich sind.
Irgendwann hat mich Kristin mit einer H&M-Tüte erwischt, das war ein Problem, das bis heute nicht vollständig aus der Welt geschafft ist.
Was sie so früh am Morgen will? Noch bevor sie an die Tür klopfen kann, durchfährt es mich wie ein Blitz. Kristin ist gestern Abend kurz nach unserer Verkündigung nach Hause gegangen, irgendetwas von Arbeit murmelnd und mit einem Gesicht, als hätte sie Rollsplitt zwischenden Zähnen. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, so schaut sie öfter mal drein, wenn sie am nächsten Morgen wegen irgendeines Drehs um vier Uhr früh aufstehen muss. Aber jetzt … fallen mir die Gender-Studies-Seminare ein, die wir während des Studiums zusammen besucht haben. Judith Butler. Das Geschlecht als normatives Phantasma. Die kulturelle Performanz der Geschlechterrollen.
Ich ziehe den Kopf ein und öffne die Tür.
»Hallo, Charlotte!«
Die Ehe als Institutionalisierung weiblicher Unfreiheit, so hieß ein Artikel, den sie mal im Magazin des
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