Heiß wie der Steppenwind
genaue Untersuchung mit EKG und Röntgen hatte bewiesen, daß sein Blutkreislauf normal funktionierte, sein Herz kräftig schlug und keine postoperativen Schäden zurückgeblieben waren. Die bereits schon legendär gewordene Trendelenburgsche Operation in Workuta war ein voller Erfolg. Auch in Moskau wußte man das bereits. Prof. Demichow hatte geäußert: »Diesen Pjetkin möchte ich kennenlernen.« Ein fataler Wunsch, denn hinter Pjetkins Namen stand ein alles versperrendes rotes Kreuz.
Pjetkin brachte Starobin an den Zug. Da er Häftling war, gingen zwei Soldaten mit. Ein verwirrendes Bild für die Kenner der Situation. Von Oberst Baranurian, Marianka Dussowa und den anderen Ärzten hatte sich Starobin im Lager verabschiedet – nun saß er im Sonderabteil, hatte Pjetkin die Hand gegeben und wünschte sich, daß der Zug schnell abführe. Abschiednehmen in einer solchen Lage war eine verdammte Sentimentalität, die man unterdrücken mußte.
Die Türen klappten zu, Pjetkin legte zum letztenmal die Hand auf Starobins Schulter.
»Gute Fahrt und grüße Jekaterina Pawlowna und die Kinder.«
»Danke, Igor Antonowitsch.«
»Denkst du an dein Wort, Njelep?«
»Geh zum Teufel!« Starobin drückte sich in die Polster, zog die Fellmütze über das Gesicht und schwieg. Als der Zug anfuhr, sah er nicht hinaus und nicht zurück. Er wußte, daß Pjetkin ihm nachwinkte, und das verkrampfte sein Herz. Und er wußte eines jetzt ganz sicher: Er würde Workuta nie mehr inspizieren.
In einer Wolke aus Wasserdampf und in der Kälte vernebelter Luft entschwand der kurze Zug.
Die beiden Soldaten brachten Pjetkin zurück ins Lager.
E INUNDVIERZIGSTES K APITEL
Sechs Wochen gingen dahin, und Starobin schwieg aus Moskau. In Mittelrußland schmolz bereits der Schnee und verwandelte die Dorfstraßen in Schlamm, an Don und Wolga begann die Blüte der Frühlingsblumen und dufteten die süßen Pappelknospen, die Zieselmäuse huschten aus ihren Löchern, und in den Niederungen platzten die Weidenkätzchen auf … in Workuta lag noch die Schneedecke wie festgewalzt, und nur der aufreißende Himmel zeigte an: Es beginnt ein neues Jahr, der Winter ist gebrochen, bald werden auch die Moose und Flechten der Tundra blühen.
Oberst Baranurian sprach mit der Dussowa darüber. »Ihre Sorge war unbegründet, Marianka Jefimowna … Starobin ist gesund, und mit der Gesundheit ist seine Vergeßlichkeit zurückgekehrt. Das Versprechen … es war doch sicher, daß Moskau sich nicht erpressen läßt. Eine phantastische Idee Igors … aber eben nur phantastisch. Das Leben geht weiter. Vielleicht wird man Igor begnadigen, in den Zivilstand zurückversetzen und hier im Lager als Arzt lassen. Das wäre ganz Ihr Wunsch.«
»Mehr wollte ich vom Leben nicht«, sagte die Dussowa ehrlich.
Pjetkin selbst sprach nicht darüber. Er glaubte auch nicht mehr an Starobins Versprechen, aber er begann, sich selbst zu belügen und vor allem mit seiner Illusion zu leben. Er lernte Deutsch.
Jede freie Stunde nutzte er aus, sich in die Lehrbücher hineinzuwühlen. Aus der Schule von Workuta hatte er sie geliehen, die Verwaltung des Lagers hatte sie ihm beschafft, nachdem Oberst Baranurian die Bitte abgezeichnet hatte. Manches kam in Pjetkin wieder hoch, der Hans Kramer aus Königsberg war nicht ganz gestorben, aber dennoch war es mühsam, denn die deutsche Sprache war ihm fremd. Verbissen lernte er Grammatik und sprach die deutschen Sätze laut vor sich hin, um sich an den Klang zu gewöhnen und sich zu erinnern.
Marianka hörte ihm die Vokabeln ab. Zuerst hatte sie die Bücher gegen die Wand gefeuert und auf ihnen herumgetrampelt … aber Pjetkin holte sie immer wieder zu sich, mit einer Geduld, an der sie schließlich zerbrach. »Gut«, sagte sie. »Du bist der Stärkere. Lerne diese verfluchte Sprache … ich lerne sie mit.«
Die Wochen flossen dahin.
Langsam versiegte in Pjetkin die Hoffnung wie Tropfen im Wüstensand. Starobin hatte ihn vergessen. Das war nun klar. Ihn zu erinnern, war unmöglich … die Gelegenheit damals war einmalig gewesen. Nie kehrte so etwas wieder. Sie war einmalig und gemein … Pjetkin nahm es klaglos als Strafe hin, verraten worden zu sein. Er hatte die ärztliche Ehre beschmutzt, einen Sterbenden gezwungen … er hatte jetzt kein Recht, von Verrat zu sprechen.
»Ich habe den Himmel angefleht«, sagte Dunja in diesen Wochen zu Marko. Und sie schrieb es auch an Pjetkin. »So nahe wie jetzt können wir als Unfreie nie mehr sein. Ich
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