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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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aus ihrem immer offenstehenden Zimmerchen am Beginn des Ganges, als Pjetkin aus dem Fahrstuhl trat.
    »Ein Paket vom Innenministerium!« rief sie. »Sie sind ein berühmter Genosse. Und so menschlich. Ich habe Ihr Reisebündel durchgesehen – mein Bruder kann alles gebrauchen …«
    Das Paket kam von Starobin. Es enthielt Bilder aus dem Waisenhaus, Fotos von Pjetkins Klasse, im Vordergrund ›Njelep‹, der Häßliche, ›Dolgoruki‹, der Langhändige, ›Schwaßtun‹, das Großmaul. Hinter ihnen, als müsse er jeden gegen jeden schützen, stand Komorow, ihr Erzieher. Es waren Aufnahmen, die Pjetkin bis heute nie gesehen hatte … lange saß er davor, betrachtete sich als Kind und wunderte sich, daß er der schmächtige Bursche sein sollte, der da in der ersten Reihe stand.
    Ferner lagen in dem Paket zwei Dauerwürste, ein Glas mit kandierten Früchten, ein Glas eingelegte Essiggurken und ein Stück Räucherfleisch.
    »Von meiner Frau«, hatte Starobin auf einen Zettel geschrieben. »Sie sagt, ich sei ein neuer Mensch. Gute Fahrt, Du Idiot …«
    Keine Anrede, keine Unterschrift … selbst Starobin schien Angst zu haben, solche Geschenke wegzuschicken.
    Eine Stunde später sprach er mit dem Abteilungsleiter Herrenbekleidung im Kaufhaus GUM. Er wurde behandelt wie ein Mitglied des Obersten Sowjets.

V IERUNDVIERZIGSTES K APITEL
    Igor Antonowitsch Pjetkin verließ Moskau wie ein privilegierter Reisender. Er hatte einen reservierten Fensterplatz im 1. Klasse-Abteil des Moskau-Berlin-Expreß, der Schaffner führte ihn bis zu den Polstern und sagte: »Auf dieser Seite haben Sie die beste Aussicht, Genosse«, vom Speisewagen, der noch gar nicht geöffnet war, brachte ein Kellner ein großes Glas bester russischer Limonade, die Prawda und die Illustrierte ›Neues Rußland‹.
    Pjetkin wunderte sich, setzte sich vorsichtig, als habe er Schwielen am Hintern und mußte sich immer wieder vorsagen: Du bist ein freier Mensch!
    Er selbst erkannte sich nicht wieder. Der neue Anzug, der schöne Mantel, braune feste Schuhe, ein hellblaues Hemd mit einer dunkelblauen, einfarbigen Krawatte, ein weicher grauer Hut mit keck gebogener Krempe, zwei Lederkoffer, nicht so luxuriös wie die der Dussowa, die er in Workuta gelassen hatte, in dem einen Koffer Unterwäsche, zwei Schlafanzüge, zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe, eine Strickjacke, zwei Hosen, Taschentücher und einen elektrischen Rasierapparat. Alles neu. Alles aus dem Kaufhaus GUM. Starobin hatte ihm für alles Bezugsscheine gegeben … nur bei dem Elektrorasierer gab es Schwierigkeiten: Es waren keine mehr vorrätig. Der Abteilungsleiter rannte weg und überreichte Pjetkin seinen eigenen Rasierapparat. »Noch neu«, sagte er. »Nur dreimal im Gebrauch gewesen. Und Bartläuse oder Hautflechte habe ich nicht. Sie können sich ihm ohne Sorge anvertrauen, Genosse.«
    Im zweiten Koffer lagen Starobins Geschenke, sonst nichts. Was braucht ein Mann, wenn er sein Vaterland verläßt? Mut für das Unbekannte und die Hoffnung auf die Rückkehr. Beide wiegen nichts auf einer Waage und nehmen keinen Platz weg …
    Der Zug war nicht voll besetzt. Pjetkins Abteil blieb leer. Vielleicht war es auch Absicht … der Schaffner dirigierte die anderen Reisenden immer an Pjetkins Tür vorbei und verstaute sie in andere Abteile. Kurz bevor der Zug abfuhr, setzte er sich erschöpft auf den Türplatz und wischte sich den Schweiß vom Lederinnenrand der Mütze.
    »Haben Sie noch Wünsche?« fragte er.
    Pjetkin schüttelte den Kopf. »Fahren wir gleich?«
    »Ja.«
    »Sie fahren immer die gleiche Strecke? Moskau – Berlin?«
    »Nein. Nur bis Brest-Litowsk. Da wechselt das Personal. Polen kommen dann. Bis Frankfurt/Oder. Da übernehmen Deutsche den Zug.«
    »Haben Sie nie Lust, bis Berlin zu fahren?«
    »Nein. Warum?«
    »Und dann in Berlin zu bleiben? Im freien Westen?«
    Der Schaffner blickte Pjetkin scheel an. »Ist der Westen wirklich frei, Genosse? Auch dort werden die Menschen hin und her geschoben, wie Puppen, nur hängen sie nicht an einfachen Drähten, sondern an goldenen Fäden. Der einzige Unterschied.«
    »Ich kenne den Westen nicht. Ich reise jetzt hin.«
    »Ich weiß.«
    »Wenn man Ihnen zehntausend Rubel gibt und sagt: Verlaß Rußland für immer … täten Sie das?«
    »Nie! Nicht für eine Million Rubel. Was soll ich auf der Welt ohne Rußland?«
    Eine russische Antwort … Pjetkin blickte starr aus dem Fenster. Der Bahnsteig war fast leer. Mit dem Berlin-Expreß zu reisen, war

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