Heiß wie der Steppenwind
tatsächlich eine große Sache. »Auch nicht wegen einer Frau?«
»Überhaupt nicht, Genosse. Rußland hat genug hübsche Frauen … warum soll man für eine einzige das Vaterland verkaufen?«
Pjetkin schwieg. So kann nur einer reden, der Dunja nicht kennt, dachte er. Ich würde mit ihr die Erde verlassen, wenn es irgendwo im Weltall einen Punkt gibt, wo wir zusammen leben könnten.
Der Schaffner sprang auf, lief auf den Flur, schloß Pjetkins Abteiltür und rannte den Gang entlang.
Pjetkin schloß die Augen, als der Zug anruckte und die Bahnhofshalle verließ. Über Moskau lag eine kalte Sonne, der Schnee glitzerte auf den Dächern, die Fassaden der großen Prachtbauten reflektierten das Licht und blendeten die Augen. So geht ein halbes Leben zu Ende, dachte Pjetkin und lehnte sich zurück. Die zweite Hälfte aber hat noch nicht begonnen. Der andere Mensch muß erst noch geboren werden. Ein merkwürdiges Gefühl, nichts zu sein …
Der Schaffner drückte die Tür wieder auf. Er hatte die Mütze jetzt in den Nacken geschoben. Sein breites Bauerngesicht war ein Symbol des Landes, das ihn geformt hatte. »Sie verlassen Moskau für immer, Genosse?«
»Ja. Nicht nur Moskau.«
»Rußland? Das muß ein wichtiger Auftrag sein …«
»Gar kein Auftrag. Ich fahre einfach weg und komme nicht wieder.«
»Das gibt's doch gar nicht, Genosse! Oder sind Sie kein Russe?«
»Mein Vater war der Kriegsheld Oberst Pjetkin, Stalingradbefreier.«
»Und trotzdem –«
»Trotzdem.«
Der Schaffner starrte Pjetkin an, wie man ein seltenes Tier betrachtet, schob die Mütze nach vorn und ruckte an seinem Rock. »Ich muß kontrollieren«, sagte er plötzlich sehr steif. »Genießen Sie die Aussicht, Genosse.«
Pjetkin war allein. Ein nie gekanntes, bedrückendes Gefühl. Sein bisheriges Leben war er nie allein gewesen, immer war jemand um ihn gewesen, ständig hatte jemand etwas von ihm gewollt … jetzt saß er da einsam auf einem Eisenbahnwagenpolster, vor dem Fenster zog Moskau vorbei und entfernte sich mit jedem Räderrollen. Er war ein anonymer Mensch, ein abgekapseltes Schicksal, ein Wesen ohne Bindung … er war frei.
Das Alleinsein erdrückte ihn fast. Er sprang auf, wollte das Fenster öffnen, aber das war mit einem Schloß gesperrt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben, das Gesicht an die Scheibe zu drücken und Kontakt zu nehmen mit der Landschaft, die an ihm vorbeiflog.
Häuser, Felder, Straßen, Bäche, Waldstücke, Pferdekarren, gegen Kälte vermummte Menschen, Bauernhöfe, Dörfer, die Gärten von Flechtzäunen umgeben, Weite, ein Himmel, der sich mit der Erde paarte. Rußland.
Es glitt vor ihm weg, er konnte es nicht mehr greifen, er war ausgestoßen und nur noch fremder Beobachter.
Nach einer halben Stunde steckte der Kellner den Kopf ins Abteil. Er schien mit dem Schaffner gesprochen zu haben – er war höflich wie immer, aber zurückhaltender. »Noch eine Limonade?«
»Nein. Eine große Flasche Wodka. Mindestens 200 Gramm.«
»Genosse, wir dürfen nur Gläser abgeben.«
»Dann zehn Gläser.«
»Eins.«
»Besorgen Sie mir eine Flasche, mein Freund.«
»Im Zug? Unmöglich.«
»Wie heißt die nächste Station?«
»Moschaisk.«
»Springen Sie aus dem Zug und holen Sie mir eine Flasche. Ich gebe Ihnen zehn Rubel dafür.« Pjetkin warf den Geldschein auf den Nebensitz. Der Kellner steckte die Rubel ein und hob die Schultern.
»Wir haben nur drei Minuten Aufenthalt. Ich werde zum Olympialäufer werden, Genosse. Wenn es in Moschaisk nicht gelingt, bleibt uns noch Wjasma übrig.«
Es gelang in Moschaisk. Zwei Flaschen zu hundert Gramm. Wasserhelle Tröstung. Brennendes Vergessen. Vernebelte Seele. Pjetkin trank eine Flasche leer, indem er sie einfach an die Lippen setzte. Der Kellner sah ihm zu, mit weiten Augen, als erlebe er einen Selbstmord. Aber Rußland blieb. Draußen vor dem Fenster sang die Kindheit. Wälder, Wälder, Wälder … Feld an Feld … die Dörfer wie abgeklopfte Lehmbrocken von der Schaufel eines Riesen … Pjetkin trank die zweite Flasche leer. Der ungewohnte Alkohol warf ihn um. Er rutschte auf die Polster, legte sich lang und schlief ein.
Pjetkin verschlief die Reise und wichtige Stationen, über die man ihn später in Deutschland viel fragen würde, denn Namen tauchten am Schienenstrang auf, die für die deutsche Kriegsgeneration zum Teil ihres Lebens gehörten: Jarzewo … Smolensk … Orscha … Borissow … Der Weg, auf dem Napoleon und Hitler gescheitert
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