Heiß wie der Steppenwind
blitzend vor Sauberkeit, asphaltierte Straßen überall, an den heruntergelassenen Eisenbahnschranken ein Gewimmel von Autos und Lastwagen, Menschen in hellen, luftigen Kleidern … welch eine Welt!
Es waren Eindrücke, die Pjetkin wie rasende Bilder an sich vorbeiflimmern sah.
Frohe Menschen … Sauberkeit … Wohlstand überall … in einem Garten ein kleines Schwimmbecken … eine junge Mutter, und das Kind in einem hochrädrigen Kinderwagen … Geschäfte, Schaufenster, in denen sich die Waren stapelten … da, eine Metzgerei, Berge von verschiedenen Würsten, Fleischstücke auf glänzenden Tabletts … eine Bäckerei, Torte an Torte im Fenster … und keiner steht an, keine riesenlange Schlange, die stundenlang geduldig wartet, keine Frauen in Kopftüchern, keine Männer in zerknüllten Mützen … Kann man das begreifen? Da hängen Kleider in den Fenstern, wundervolle Kleider, und jeder kann in solch ein Geschäft gehen und sich eins oder zwei oder sogar zehn kaufen, wenn er's bezahlen kann, und keiner sagt: »Halt! Nur ein Kleid! Die anderen wollen auch etwas haben! Wir haben nur vierhundert Kleider bekommen. Seien Sie nicht unverschämt, Genosse!« Herr im Himmel … man kann hundert Kleider, tausend Würste, fünftausend Kuchen kaufen, wenn man will … Eine neue Welt. Deutschland.
Pjetkin trat hinaus auf den Gang und lehnte sich dort an die Scheibe. Er versuchte, die Ortsnamen zu lesen, und sprach sie leise vor sich hin. Dann gab er alles auf, starrte nur über das frühlingsbunte Land und sagte sich: Das ist nun deine Heimat. Dieses fremde, völlig andere Land mußt du ab heute lieben.
Pjetkin wurde unruhig. Er ging durch den Zug, setzte sich im Speisewagen an einen kleinen Tisch ganz hinten in der Ecke, bestellte eine Tasse Kaffee und zwang sich, nicht mehr zur Seite aus dem Fenster zu blicken.
Der Zwiespalt in ihm wurde immer größer, zerriß ihn langsam und zerteilte ihn in zwei Hälften. Der Russe Pjetkin und der Deutsche Hans Kramer, und erschrocken, entsetzt und doch fasziniert erkannte er, daß sich die beiden Teile seines Wesens zu beäugen begannen, sich bespitzelten, gegeneinander mißtrauisch wurden. Mitten durch ihn hindurch zog sich plötzlich ein Stacheldraht, der Ost von West trennte. Der Kellner, ein Berliner, strich ein paarmal vor Pjetkin hin und her, rückte Salzstreuer und Zuckergeber von links nach rechts, wedelte ein paar Krümel auf den Boden und zog an der weißen Decke.
»Sind Sie der Mann aus Workuta?« fragte er schließlich leise und beugte sich vor, als wolle er etwas vom Fensterrahmen abwischen.
»Ja.« Pjetkin lächelte. »Spricht sich das so schnell herum?«
»Deutscher, wat?«
»Ja.« Pjetkin sagte dieses Ja und spürte, wie sein russisches Ich-Teil die Faust hob. »Ich bin Deutscher.«
»Plenny?«
»Nein, kein Kriegsgefangener.«
»Politisch?«
»Auch nicht.«
»Du meene Jüte – vaschleppt?«
»Auch nicht verschleppt. Ein sowjetischer Kapitän hat mich auf dem Friedhof von Königsberg gefunden. Damals … als ich noch ein Kind war.«
»Und seitdem sind Se …?«
»Ja, seitdem.«
»Alles Scheiße, wat, unter uns jesagt? Jetzt kommen Se erst raus! Wo wollen Se denn hin? Stimmt det – Sie sind Arzt? 'n richtiger Doktor?«
»Ja. Ich bin Arzt.«
»Und wohin nun?«
»Nach Berlin, zunächst.«
»Ost.«
»Was heißt Ost?«
»Nu, Ost-Berlin und West-Berlin.«
»Ich weiß nicht.«
Pjetkin wurde unsicher. Auf seinem Fahrschein stand einfach: Berlin. Was heißt da Ost oder West?
»Gibt's da einen Unterschied?« fragte er.
»Mann! Se sind wohl direkt vom Mond jefallen, wat?« Der Kellner ordnete das Geschirr auf dem Tisch. Pjetkins Tasse ließ er dabei rund um den Tisch kreisen. Man muß ja einen Grund haben, an diesem Tisch zu stehen. »Se wissen wohl jarnischt?«
»Nein. Ich habe in Sibirien und am Eismeer gelebt … da hatte man genug mit sich selbst zu tun.«
»Det es so was jibt!« Der Kellner lehnte sich gegen den Tisch. »Se kommen jetzt nach Ost-Berlin. Det is de Hauptstadt von der DDR.«
»Also Deutschland.«
»Ja und nee. Da jibt es noch die BRD. Hauptstadt Bonn.«
»Auch Deutschland.«
»Natürlich. Aba nun kommt's! Se können von Ost-Berlin nich nach Bonn.«
»Warum? Ich will nach Lemgo.«
»Ausjeschlossen. Da Se noch keene fünfundsechzig sind, kriejen Se keene Karte nach Lemgo.«
»Aber ich bin doch in Deutschland.«
»Konnten Se von Moskau nach Odessa fahren?«
»Ja. Jederzeit. Sogar fliegen.«
»Dann weeß ick nich, warum Se
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