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Heiß

Heiß

Titel: Heiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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wischte sich den Schweiß von der Stirn und begutachtete den Fortschritt seines Werkes. Erstmals beschlichen ihn Zweifel. War es tatsächlich richtig, das größte Geheimnis der Kalash dem Holz anzuvertrauen? Sollten bestimmte Dinge nicht für immer verborgen bleiben, ein getuschelter Lufthauch am abendlichen Lagerfeuer, unhörbar für die Uneingeweihten?
    Ein Geräusch unterbrach seinen Gedankengang. Er schaute auf und sah eine Gruppe von fünf Männern aus dem Wald treten, mit umgehängten Gewehren und den traditionellen, schweren Krummdolchen am Gürtel. Ihre Gesichter waren verborgen, und Juan erkannte sie nicht an ihrem Gang. Es mussten also Fremde sein, vielleicht auf den schmalen Fußwegen über die Berge aus Afghanistan gekommen.
    Der alte Mann lehnte sich auf seine Axt und sah ihnen ruhig entgegen. »Seid willkommen im Tal der Kalash«, begrüßte er die Männer, doch keiner der fünf antwortete. Sie kamen näher, blickten sich um, fixierten dann Shah Juan. Plötzlich und ohne Vorwarnung sprangen zwei von ihnen vor, zerrten den alten Mann von der Axt weg und schoben ihn in Richtung Hütte. Der Shah wehrte sich heftig, riss einem der beiden das ockerfarbene Tuch vom Gesicht und erstarrte. Sein Angreifer war Europäer, ohne Zweifel, mit weißer Haut und graugrünen Augen. Unter dem Turban lockte sich rötlich-blondes Haar.
    »Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?«, rief Juan verwirrt. »Was macht ihr überhaupt hier?«
    Blitzschnell verhüllte der Angreifer wieder sein Gesicht und stieß den alten Mann durch die Tür in die Hütte. Währenddessen ging der Anführer fast gemächlich zu der kleinen Axt hinüber, die nach wie vor in dem großen Holzblock steckte. Er ergriff sie mit einem dünnen Lächeln, wog sie in der Hand und trat dann in die Hütte. In einer fremden Sprache, die der Shah nicht verstand, gab er seinen Männern, die den Alten festhielten, einen kurzen Befehl. Juan wurde auf den Rücken gedreht und mit ausgestreckten Armen auf den blank polierten Boden gedrückt.
    Nachdem er auf die auf Englisch gebrüllten Fragen der Angreifer nicht antwortete, stellte der Anführer seine Füße auf die Unterarme des alten Mannes und hackte ihm mit gezielten Schlägen beide Hände ab, ohne sich um die Proteste und die hastig hervorgestoßenen Fragen seines Opfers zu kümmern.
    Erst die linke und dann die rechte.

Ostermontagabend, Kleingartenanlage »Sonntagsfrieden«, Berlin/Deutschland
    Thomas Calis verfluchte seine Tante Louise an diesem Abend bereits zum hundertsten Mal.
    Mindestens.
    Als er erschöpft den drei Männern hinterherblickte, die mit einem herablassenden Lächeln die quietschende Gartentür öffneten, das Grundstück verließen und sich dabei einen wissenden Blick zuwarfen, schickte er noch einen besonders saftigen Fluch himmelwärts und hoffte, dass Tante Louise ihn da oben hören möge. Das Gremium der Kleingartenanlage »Sonntagsfrieden«, bestehend aus Vorsitzendem, Kassenwart und einem greisen Ehrenmitglied, das bestimmt noch Bismarck persönlich gekannt hatte, bog entschlossen auf den schmalen Verbindungsweg zwischen den Gärten ein. Dann, wie auf ein unhörbares Kommando, wandten sich die drei Männer auf dem gepflegten Kiesweg nochmals um und warfen einen misstrauischen Kontrollblick zurück. Er wartete nur darauf, dass sie erneut einen Zollstock zücken würden, um die Höhe der Fliederhecke nachzumessen. Der Schlag sollte sie treffen und seine Tante Louise noch dazu!
    Aber der zweite Teil des Wunsches hatte sich bereits erfüllt.
    Dabei hatte alles so harmlos begonnen. Kurz nach Weihnachten war Tante Louise – oder Louischen, wie sie im Kreise der Familie hieß – im Alter von 84  Jahren sanft entschlafen. Ihr riesiges Appartement am Ku’damm, das sie seit mehr als fünfzig Jahren allein bewohnt und bis an die Decke mit, ihrer Ansicht nach, Sammelnswertem vollgestopft hatte, war der regelmäßige Treffpunkt für Familienfeste aller Art gewesen. Denn eines hatte Tante Louise perfekt beherrscht – sie konnte kochen wie ein französischer Küchenchef.
    Louise kochte gern, ausgezeichnet und viel, was ihr in der Familie eine unbestrittene Beliebtheit sicherte. Dazu kam, dass ihr erster und einziger Gemahl, der die Ehe mit der quirligen Louise nur neun Monate lang überlebt hatte, sein beträchtliches Vermögen in blinder Liebe seiner damals blutjungen Frau vermacht hatte. So konnte Louischen sich den Luxus erlauben, nicht zu arbeiten, ihr plötzliches Vermögen zu vermehren und

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