Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heiß

Heiß

Titel: Heiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
Vom Netzwerk:
war lang vorbei, es war spät geworden, oder besser gesagt früh, und das Babylon hatte sich geleert bis auf ein paar Unverdrossene, die nicht mehr nach Hause gehen wollten oder konnten.
    Auf der halbdunklen Bühne, von einem einzelnen Scheinwerfer in ein mystisches Zwielicht getaucht, quälte ein Mann in schwarzen Hosen und weißem Hemd eine Ziehharmonika. Weil sich niemand beschwerte, machte er unbeirrbar weiter.
    »Es ist also wahr? Du gehst zurück nach Afrika?«, erkundigte sich Roberto müde. »Wir werden dir fehlen.«
    »Träum weiter«, gab Finch grinsend zurück, »es gibt Dinge, denen weint man nicht nach. Die versucht man, so schnell wie möglich zu vergessen.«
    »Red dir den Abschied nur schön«, gab der Barkeeper zurück und nahm ein weiteres Glas in Angriff, dem er hingebungsvoll Schlieren verpasste. »Eine Bar wie das Baby wirst du in der Wüste bei den Wilden nicht finden.«
    »Zum Glück«, erwiderte Finch trocken. »Die haben dort Geschmack.«
    »Kochen die da noch immer über Kameldung?«, erkundigte sich Roberto mit unschuldiger Miene. »So viel zum Geschmack …«
    Finch verdrehte die Augen und leerte sein Glas. Eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Magen aus. War es die Vorfreude auf seine alte Heimat oder nur der Laphroaig? Wie auch immer, dachte er und lehnte sich vor. »Du warst es doch, der dieses Kaff als Arsch der Welt bezeichnet hat, von dem aus es nirgends mehr hin geht. Wenn ich mich recht erinnere, dann hast du mir zugeredet wie einem kranken Pferd, endlich meine Sachen zu packen und zu verschwinden.«
    »Ach was, das ist wie bei den Frauen«, winkte Roberto ab. »Man sagt vieles, wenn die Nacht lang ist. Das ist doch eine alte Geschichte.«
    Ja, alte Geschichten, dachte John Finch, hielt sich vorsichtshalber an der Theke fest und blickte zur stuckverzierten Decke, die sich gelblich verfärbt hatte. Dieses Haus war voll davon. Sie hatten sich in allen Ecken und Nischen eingenistet, wie Schwalben, die nie mehr südwärts fliegen wollten. Hemingway sei einmal hier gewesen, so munkelte man, habe alle unter den Tisch getrunken und dann die Zeche geprellt. Evita Perón habe eines Abends plötzlich auf der Bühne gestanden und eine flammende Rede gehalten, eine Lanze fürs Frauenwahlrecht gebrochen.
    Und Caruso erst …
    Alte Geschichten.
    Je später der Abend, desto abenteuerlicher wurden sie. Was tatsächlich stimmte, das blieb für immer das Geheimnis der ätherischen Jugendstil-Engel auf der Empore, die mit unbewegter Miene nun seit fast einem Jahrhundert über die Besucher wachten.
    Er würde sie vermissen, diese Geschichten, die Patina und die Atmosphäre von Dekadenz und Verfall. Sonst nichts und niemanden, außer Fiona vielleicht, aber auch das war noch nicht geklärt.
    John Finch schob sein Glas über die Theke, fuhr sich mit der flachen Hand über die kurz geschnittenen grauen Haare und rutschte vom Hocker. »Zeit zu verschwinden, diesmal für immer. Bleib anständig und trink ab und zu einen auf mich.«
    »Wann geht dein Flug?«
    »Morgen, erste Maschine nach Rio, dann Direktflug nach Kairo«, antwortete Finch.
    »Du hast noch zwei Flaschen bei mir gut«, erinnerte ihn Roberto.
    »Heb sie auf, wer weiß? Zahlst du Zinsen? Vielleicht werden drei daraus mit den Jahren«, sagte Finch lächelnd und streckte die Hand über die Theke. »Es wird Zeit, die Bar zu wechseln.«
    »Das hast du vor sechs Monaten schon einmal gesagt«, erinnerte ihn der Barkeeper. »Und doch hat dich das Baby wieder zurückgeholt.«
    »Diesmal ist es ernst«, gab Finch zurück. »Ich bin schon weg.«
    Roberto stieß sich vom Flaschenregal ab, hängte sich das fleckige Tuch über die Schulter und schüttelte dem Piloten die Hand. »Ich wiederhole mich ungern, aber pass auf dich auf, alter Mann«, sagte er lächelnd, »und schreib eine Ansichtskarte. Ich hab noch immer einen Magneten auf meinem Kühlschrank frei.«
    Finch winkte grinsend ab. »Angeber, du hast gar keinen eigenen Kühlschrank.«
    »Touché«, gab Roberto zurück und widmete sich wieder seinen Gläsern, »aber wie du siehst, arbeite ich daran jeden Tag bis spät in die Nacht.«

Hochtal Rumbur, nahe Chitral, nordwestliche Grenzprovinz/Pakistan
    Der alte Mann mit den wachen blitzblauen Augen legte seine Axt beiseite, zündete sich eine Zigarette an und zog die gestrickte Mütze vom Kopf. Während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, blickte er nachdenklich von seiner Hütte auf den kleinen Ort hinunter. Graue Steinhäuser, sauber

Weitere Kostenlose Bücher