Heiß
und adrett angelegt, gruppierten sich um eine Brücke über den Fluss, der im Frühjahr gefährlich anwuchs und das Schmelzwasser von den zahlreichen Berggipfeln bis in das Tal von Chitral beförderte. Nun spielten Kinder an den Ufern und scheuchten lachend ein paar Ziegen durch die Gegend.
Shah Juan von Rumbur lebte trotz seines Alters von fast fünfundachtzig Jahren den Sommer über in seiner Hütte am Rand eines der großen Eichenwälder. Mit der Schneeschmelze und den ersten warmen Sonnenstrahlen zog es ihn auf den Berg, in das roh gezimmerte Häuschen mit der großen Feuerstelle, dem blanken Fußboden und den stummen, lebensgroßen Wächtern. In der kleinen Ansiedlung unten im Tal war es ihm zu eng, und als einer der bekanntesten Künstler seines Volkes, der viel bewunderte monumentale Holzskulpturen mit jahrtausendealten Symbolen erschuf, genoss er die Nähe der Natur.
Der Wald war sein Freund, die Bäume seine Vertrauten.
Und die reglosen Figuren mit den seltsamen Kopfbedeckungen waren seine Gefährten.
Juan wandte den Kopf und blickte hinauf zu den Bergen, die den Abschluss des Tales und zugleich die Grenze nach Afghanistan bildeten. Die meisten ragten über fünftausend Meter hoch in den azurblauen Himmel, wie steinerne Wächter im Norden, die beschlossen hatten, nie wieder fortzuziehen und sich für immer hier niederzulassen.
Die drei Täler, in denen sein Volk, die Kalash, lebte, waren seit jeher fruchtbar und von der Natur verwöhnt. In einer kargen, steinigen und lebensfeindlichen Berglandschaft waren die »Drei Paradiese«, wie man sie auch nannte, bekannt für ihre überreichen Ernten an Trauben, Nüssen, Äpfeln und Aprikosen. Die warmen Sommer in der Hochgebirgsregion und die oft harten und kalten Winter, das glasklare Wasser der zahlreichen großen und kleinen Flüsse und der Fleiß der Kalash hatten das Gebiet zu dem gemacht, was es heute war: ein friedlicher, geschützter Ort an einer gefährlichen Grenze. Denn trotz der Abgeschiedenheit und des einfachen Lebens, des Versuchs, die Traditionen zu bewahren und ihrer altertümlichen Religion lebten die Kalash keineswegs hinter dem Mond. Auch in ihrem kleinen Gebiet wurde der Druck durch die Taliban immer größer, die Übergriffe der islamistischen Tablighi Jamaat häufiger, die Parolen extremistischer, die Stimmung aggressiver.
Die Grenze zu Afghanistan war nahe, die alten Schmugglerpfade waren unkontrollierbar und nur den Eingeweihten bekannt. Sie boten eine rasche Rückzugsmöglichkeit in ein Gebiet, das die pakistanische Regierung schon seit langem als unüberwachbar eingestuft hatte. Der Hindukusch war eine einsame, raue Region, in der andere Regeln galten.
Ältere, ja oft archaische Regeln.
Zwei kleine Falken zogen ihre Kreise am frühen Nachmittagshimmel, und Juan sah den Vögeln zu, wie sie geschickt ihren Flug an die aus dem Tal aufsteigende warme Luft anpassten. Dann wandte er sich wieder dem großen Stück Holz zu, das unter einem Vordach im Schatten lag. Die Kalash, die Ungläubigen, sprachen ihre eigene Sprache, aber sie konnten sie nicht schreiben. So gab es keine Aufzeichnungen, und es hatte auch nie welche gegeben. Alles wurde mündlich weitergegeben, von Generation zu Generation, sorgfältig bewahrte Geschichten aus dem Dunkel der Zeit; Geheimnisse aus längst vergangenen Jahrhunderten.
Das war einer der Gründe, warum der Arbeit des Shahs so große Bedeutung zukam. Er hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, den Alten zuzuhören und ihre Erzählungen in Symbolen festzuhalten. Die Geschichte der Kalash, die keiner glaubte, aus einer Vergangenheit, die viele belächelten, die jedoch die Wissenschaftler verunsicherte. Weil sie nach langen Untersuchungen gestehen mussten, dass die alten Legenden wahrscheinlich stimmten.
Juan lächelte versonnen und strich über sein immer noch volles, etwas angegrautes dunkelblondes Haar. Nach der Annexion der Chitral-Region durch Pakistan war er es gewesen, der sich selbstsicher für die Respektierung der Kalash als nicht-islamische Minorität durch die neue Regierung eingesetzt hatte. Es hatte nicht wenige verwundert, dass er mit seinem Vorhaben Erfolg hatte. Die Behörden hatten sein Volk von Anfang an unterstützt und respektiert, das Ansehen des bescheidenen, aber wortgewandten Shahs Juan war stetig gewachsen. Er traf regelmäßig mit einflussreichen Politikern und Persönlichkeiten zusammen, um an die Kultur und die Traditionen der Kalash zu erinnern. Ob Prinzessin Diana oder Benazir
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