Heiß
der fast senkrecht in den Himmel über der Hindon Air Base stieg, sahen sich Pilot und Copilot an und nickten wortlos. Kapitän Johannson korrigierte leicht den Kurs, meldete sich in Delhi ab und nahm Verbindung zur Pakistanischen Luftverkehrskontrolle auf. In der Ferne, im Nordosten, leuchteten die Gipfel des Himalayas am Horizont.
Es würde ein ruhiger Flug werden.
Die Harrier schoss trotz des Gewichts der Zusatztanks wie ein Pfeil auf die Boeing zu, deren Triebwerke vier weiße Striche in den dunkelblauen Himmel malten. Finch nahm das Gas zurück und die Nase des Jets herunter, glich seine Geschwindigkeit an die des Verkehrsflugzeugs an, das noch immer im Steigflug auf seine endgültige Reisehöhe war. Dann schob er sich langsam von hinten unter die Boeing. Er aktivierte den neuen Abstandsradar, der ihm die Entfernung zu der Linienmaschine in das Overhead-Display einspeiste.
Näher, immer näher rückte die Harrier dem Rumpf der Boeing. Endlich war Finch zufrieden, startete das neue Programm, das den Autopiloten, der zur Sicherheit in allen zweisitzigen Trainingsjets eingebaut war, mit dem Radar koppelte.
So brauchte Finch nur noch die Hände in den Schoß zu legen und warten, bis der richtige Zeitpunkt zum Abdrehen gekommen war.
Neunzig Minuten Tandemfliegen vom Feinsten, dachte er. Mit etwas Glück würde niemand den Jet am Radarschirm bemerken, sondern nur Flug FlexFlight 2116 auf seiner täglichen Route nach Kabul.
Mit etwas Glück, ging es Finch durch den Kopf. Aber hatte er sein Glück für heute nicht bereits aufgebraucht?
Im Hangar der Hindon Air Force Base klappte genau in diesem Augenblick einen Mann einen Laptop auf, starrte auf Google Earth und las die Koordinaten, die der britische Pilot in die Suchmaske eingegeben hatte. Sorgfältig notierte er die Zahlenkolonnen, dann löschte er den Suchverlauf, beendete das Programm und fuhr den Computer wieder herunter. Nachdem er sich in dem leeren Hangar umgesehen hatte, aber niemanden entdecken konnte, griff er zu seinem Mobiltelefon und wählte die gespeicherte Nummer.
Vorwahl 0092 .
Für Pakistan.
Samstag, 18 . Mai 1935 , Bovington Militärbasis, Dorset/Großbritannien
Was um Gottes willen hatte er im Hindukusch gesucht?
Majors kratzte sich am Kopf. Er war gestern neben dem Krankenbett von Shaw eingeschlafen, auf diesem unbequemen Stuhl, der zum Militär passte. Er war hart, gradlinig, und nicht mehr der Jüngste.
Aber vor allem unbequem.
Dem Colonel taten alle Knochen weh, und er streckte sich stöhnend, bevor er ans Fenster trat und auf den betonierten Exerzierplatz hinausschaute, auf dem die Pfützen immer größer wurden. Nun regnete es bereits seit zwei Tagen, und wie es aussah, würde es auch nicht so bald wieder aufhören.
Eine Krankenschwester betrat leise den Raum, sah kurz nach dem Patienten und nahm beim Hinausgehen die Reste des Frühstücks mit.
»Mischen Sie eigentlich immer Brom in den Feigenkaffee?«, erkundigte sich Majors bissig, bevor die Schwester die Tür hinter sich zuziehen konnte.
»Sie brauchen ja nur Tee zu trinken, wie alle hier«, erwiderte die Schwester schnippisch und verschwand.
Was hatte er im Hindukusch gemacht?
Majors zog den Artikel der
Times
hervor. Das renommierte Blatt hatte anlässlich des schweren Unfalls und der Nachrichtensperre Shaws Lebensgeschichte ausgegraben und servierte sie seinen Lesern nun in kleinen Häppchen. Majors runzelte die Stirn und las: »Als er aus Arabien nach England heimgekehrt war, versank Lawrence in Depressionen. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Diplomat und Berater bei Kolonialminister Winston Churchill meldete er sich 1922 als einfacher Soldat zur Royal Air Force ( RAF ) – ein gigantischer Akt der Selbstbestrafung.«
Tatsächlich? War das so? Oder war es eine weitere Fassade, die Lawrence alias Ross alias Shaw hochzog? Wollte er nicht einfach nur aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit verschwinden, um in Ruhe durchziehen zu können, was er geplant hatte? Ließ er sie nicht vielleicht alle im Irrglauben, der große Lawrence of Arabia sei die Bescheidenheit in Person, reihe sich widerspruchslos in die Ränge der Air Force ein – und verschwand dadurch in einer selbstgewählten Grauzone, in der ihn niemand kontrollieren konnte?
»Du warst schon immer ein schlauer Fuchs«, murmelte Majors. »Du hast sie alle getäuscht, an der Nase herumgeführt, ihnen das gegeben, was sie wollten – eine lebende Legende. Und dann bist du verschwunden, hast
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