Heiß
genau hinschauen, dann steht auf dem Umschlag der Vorname ›A. Cannotier‹ und eine römische Drei. Nun, unser Ingenieur hieß aber Bertrand, Bertrand Cannotier. Das erste Rätsel.«
Siegberth schlug das Heft auf. Die Blätter waren an den Schnittkanten ein wenig vergilbt, aber die Schrift regelmäßig und gestochen scharf. Der Verfasser hatte meist mit einem harten Bleistift geschrieben und das linierte Papier bis auf den letzten Millimeter ausgenutzt. Die Zeilen waren gedrängt, und manchmal überlappten die Buchstaben sich sogar. »Der erste Eintrag trägt das Datum 13 . September 1944 «, murmelte die Wissenschaftlerin, »und ist auf Französisch geschrieben. Allerdings wechselt der Autor nach ein paar Zeilen in eine Sprache, die ich nicht kenne.«
»Das zweite Rätsel, das wir ziemlich rasch lösen konnten. Allerdings haben wir auch ein paar Tage gebraucht, um darauf zu kommen, dass es sich um Wolof handelt, eine Sprache aus der Gruppe der Niger-Kongo-Sprachen«, erklärte Konstantinos. »Wolof wird von achtzig Prozent der senegalesischen Bevölkerung gesprochen und ist Umgangssprache in diesem Land, neben der Amtssprache Französisch.«
Er tranchierte das perfekt auf den Punkt gebratene Lachsfilet und kostete es. Dann nickte er zufrieden.
»Das brachte uns auf den richtigen Weg. Weitere Recherchen ergaben, dass Bertrand Cannotier am 12 . Juni 1914 in Dakar geboren wurde, der Hauptstadt des Senegals, als Sohn eines hohen französischen Beamten der Kolonialregierung. Sein Bruder Alphonse kam ein Jahr später zur Welt, danach folgte seine Schwester Marguerite 1918 .«
»Dann handelt es sich also um das Tagebuch von Alphonse Cannotier, dem Bruder des verstorbenen Ingenieurs«, stellte Siegberth fest und blätterte interessiert in dem Heft.
»Leider nicht ganz. Es handelt sich um
eines
seiner Tagebücher, und das ist unser größtes Problem«, präzisierte der Hausherr. »Wir wissen nicht, wie viele es tatsächlich gab. Dieses ist das dritte, was dafür spricht, dass es nicht nur ein erstes und zweites, sondern vielleicht sogar ein viertes oder fünftes gab. Aber das ist nur eine Vermutung. Wie Sie sehen, stammt der letzte Eintrag dieses zweiten Bandes aus dem Jahr 1948 . Und nicht, weil Cannotier etwas zugestoßen wäre, sondern weil er auf der letzten Seite des Heftes angekommen war.«
»Befanden sich die ersten beiden Tagebücher ebenfalls in der Schachtel?«
Konstantinos schüttelte den Kopf. »Uns liegt leider nur dieser eine Band vor. Alphonse kämpfte auf der Seite der französischen Armee im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen, wurde gefangen genommen und als Zwangsarbeiter bei mehreren kriegswichtigen Unternehmen eingesetzt. Er muss wohl ebenfalls Ingenieur gewesen sein, wie sein Bruder, aber das ließ sich bisher nicht zweifelsfrei rekonstruieren. In den letzten Kriegsmonaten jedenfalls arbeitete er bei Siemens in Berlin. Er überlebte die Fliegerangriffe und Bombardierungen, hungerte und erfror fast im letzten Kriegswinter in den Baracken bei der Turbinenhalle.«
»Sie dürfen nicht vergessen, dass Ende 1944 rund sechs Millionen Ausländer und zwei Millionen Kriegsgefangene für die deutsche Wirtschaft in mehr als 30 000 Lagern und Betrieben als Zwangsarbeiter beschäftigt waren«, gab Siegberth zu bedenken. »Siemens war nach der Deutschen Reichsbahn der größte Betreiber von solchen Arbeitslagern. Alleine in Berlin betrieb das Unternehmen Hunderte davon.«
Konstantinos schenkte der Wissenschaftlerin nach und reichte ihr eine Schüssel mit grünem Salat. »Wie auch immer, Cannotier überlebte Siemens, die Bombenangriffe, den Zusammenbruch des Dritten Reiches, den Einmarsch der russischen Armee und das Chaos unmittelbar danach. Wie aus der Übersetzung seines Tagebuchs hervorgeht, erhielt er von der russischen Kommandantur ziemlich rasch einen Ausweis ausgestellt, überschritt die Demarkationslinie zu den Amerikanern und schlug sich westwärts durch. Bereits Ende 1945 war er wieder in Südfrankreich, in einem kleinen Ort in der Nähe von Marseille. Er kam bei einem Freund seines Vaters unter und wartete dort auf seinen Bruder Bertrand, der ebenfalls in einem Kriegsgefangenenlager der Deutschen gesessen hatte. Doch Bertrand kam und kam nicht, und ohne ihn wollte Alphonse keinesfalls nach Afrika zurückkehren. Da erreichte ihn ein Brief seiner Schwester Marguerite aus Dakar. Sein Vater war überraschend gestorben, und seine Mutter hatte sich daraufhin zwei Tage später aus Verzweiflung das
Weitere Kostenlose Bücher