Heiß
klassizistischen Stil, in dem sein Vater vielleicht als Beamter arbeitete. Dieses hier –«, sie zeigte Konstantinos eine Villa im Gründerzeitstil inmitten eines üppigen Gartens, »könnte sein Elternhaus gewesen sein. Es spricht also alles für Dakar. Wenn wir uns die Autos auf den Straßen ansehen, dann sind die Fotos in den späten zwanziger oder ganz frühen dreißiger Jahren entstanden. Der gute Alphonse muss damals etwa sechzehn, höchstens achtzehn Jahre alt gewesen sein. Vielleicht erhielt er auch eine Kamera zu seinem Geburtstag, wanderte durch die Stadt und probierte sie aus. Interessante Zeitdokumente aus Französisch-Südwestafrika, aber kaum etwas Geheimnisvolles.«
»Zu dieser Ansicht bin ich ebenfalls gelangt«, stimmte ihr Konstantinos zu. »Dasselbe gilt für den nächsten Stapel, der Aufnahmen von Menschengruppen und Porträts enthält. Alle sind weißhäutig, gut gekleidet, schauen in die Kamera. Es sind gestellte Fotos, vielleicht Familie und Freunde, bei Einladungen im Hause Cannotier. Wenn man genau hinsieht, dann könnte der Hintergrund der Garten um die Villa sein.«
»Von der Mode der Frauen her sind wir Mitte der dreißiger Jahre angekommen«, meinte Siegberth und ließ die Aufnahmen kurz Revue passieren. »Obwohl man nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann, wie lange die Pariser Modetrends bis nach Dakar gebraucht haben.«
»Bleiben noch drei Stapel.« Der Grieche legte seine Zigarre ab und lehnte sich vor. Dann fächerte er die übrig gebliebenen Bilder auf. »Alle drei sind interessant, aber viel schwieriger einzuordnen. Der eine mit den Aufnahmen des Schiffes, der andere, der ein wenig wie das bebilderte Tagebuch einer Wüstenreise aussieht und schließlich der dritte, der aus nur vier Fotos besteht.«
Siegbert begann mit dem letzten der drei Stapel. Sie legte die vier Fotografien auf dem Tischtuch nebeneinander und ließ ihr Vergrößerungsglas drüberwandern. »Junge Männer auf einem Schiff, aha, ohne Zweifel auf einem französischen Schiff, sehen Sie die Aufschrift auf der Tür im Hintergrund? »Gilets de Sauvetage«: In dem Raum wurden die Schwimmwesten aufbewahrt. Es spricht viel dafür, dass auf einem dieser Fotos auch Alphonse zu sehen ist, aber wir ihn nicht erkennen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann rücken die jungen Männer zur französischen Armee ein. Überfahrt nach Frankreich. Sterben für das Vaterland. Aber für uns bleiben sie anonym.«
Durch die Fotos des zweiten Stapels mit den verschiedenen Ansichten von Dünenlandschaften, vereinzelten Palmen in einer Oase, lebensfeindlichen, schroffen Bergen und eingetrockneten Flussläufen ging Siegbert rasch hinweg. Es waren weder Tier noch Mensch darauf zu sehen. Sie hätten auch vor Tausenden von Jahren aufgenommen worden sein können.
»Tut mir leid, dazu fällt mir gar nichts ein«, meinte die Wissenschaftlerin entschuldigend, bevor sie die Wüstenbilder wieder in die Schachtel legte und nach dem letzten Stapel griff: Sechs bräunlich-vergilbte Fotos, alle mit gezacktem Rand, neun mal zwölf Zentimeter groß, keinerlei Notiz auf den Rückseiten, keine Beschriftung.
Siegberth seufzte und legte drei in eine Reihe nebeneinander, dann die restlichen darunter. »Wenn ich mir den Namen des Schiffes ansehe, dann lese ich Victor, mit ›c‹ geschrieben, also eine französische Form. Also auch ein französischer Dampfer? Dann allerdings sind die ersten drei Buchstaben des Nachnamens verwirrend, ›Sch‹ – das gibt es im Französischen nicht, außer …«
Konstantinos sah sie neugierig an.
»Außer wir haben es mit einer Person zu tun, die in Elsass-Lothringen geboren wurde. Da sind deutsche Nachnamen gang und gäbe. Dann widerspräche Victor auch dem Nachnamen mit »Sch« nicht. Erinnern wir uns an Albert Schweitzer …«
»Völlig richtig«, nickte Konstantinos anerkennend. »Daran habe ich nicht gedacht. Wir suchen also eine im französisch-deutschen Grenzgebiet geborene, ziemlich berühmte Persönlichkeit, die einem Schiff ihren Namen gab. Warten Sie bitte kurz, ich hole mein iPad.«
Während ihr Gastgeber eilig im Haus verschwand, ließ Siegberth ihren Blick erneut über die sechs Fotos schweifen. Sie waren nicht gestellt, sahen eher wie Schnappschüsse aus. Niemand schaute in die Kamera, bis auf ein Foto, auf dem ein massiger Mann in kurzer Hose und mit einem breitkrempigen Panamahut überrascht von einer Landkarte aufblickte, die auf der Kühlerhaube eines PKW s, eindeutig eines Citroëns,
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