Heiß
ließ den durchgesessenen Lehnstuhl neu beziehen, warf eine ganze Menge Ladenhüter kistenweise auf die Flohmärkte von Paris und begann, sich auf Plakate, Biographien, Tagebücher und persönliche Nachlässe zu spezialisieren. Dank seiner Spürnase, seinen internationalen Kontakten, die noch sein Vater geknüpft hatte, und Stammkunden, die ihm ungeachtet aller Moden die Treue hielten, entwickelte sich der kleine Laden prächtig. Paul machte bald zehnmal mehr Umsatz im Versand als im Straßenverkauf und montierte eines Tages das alte Schild »Librairie LaTour« ab, um es im Hinterzimmer zu verstauen. Seine Kunden kannten ihn sowieso, und zufällige Passanten waren in der Rue Perronet selten.
Laufkundschaft störte nur, fand Paul, schenkte sich von da an jeden Morgen einen Pastis ein und stellte eine Kanne Tee daneben.
So hatte er mehr Zeit, um sich in seine Schätze zu vertiefen, ganze Tage zu lesen und Stangen von filterlosen Gauloises zu vernichten. Als eines Tages die Wohnung direkt über dem Laden frei wurde, zog Paul, der nie geheiratet hatte und kinderlos geblieben war, ein. Das ersparte ihm den täglichen Weg ins Geschäft und änderte mit einem Schlag auch seine Kleiderordnung. War er früher stets lässig, aber untadelig gekleidet in den Laden gegangen, so sah man ihn nun an manchen Tagen im Pyjama an dem kleinen Tisch sitzen, versunken in das Studium eines Tagebuchs oder eines Stapels Dokumente. Dann blieb die Tür des kleinen Ladens verschlossen, und ein etwas verknittertes Schild mit der Aufschrift »Bin vielleicht bald wieder da« schreckte unwissende Passanten ab.
Im Gegensatz zu seinem Großvater und seinem Vater hatte es sich Paul zur Angewohnheit gemacht, die Nachlässe, die er meist in und um Paris, manchmal aber auch in der französischen Provinz erwarb, selbst aufzuarbeiten und zu erfassen. Er las fast jeden Brief und jedes Tagebuch und wusste so bald, was genau für welchen potenziellen Kunden in Betracht kam. Damit gelang es ihm, die richtigen Stücke zu Höchstpreisen zu verkaufen, manchmal ans andere Ende der Welt. Er hatte ein untrügliches Gefühl dafür, wer was suchen könnte, welcher Sammler worauf spezialisiert war und hatte auch keinerlei Skrupel, Sammlungen in Einzelteile zu zerlegen, wenn sie dadurch mehr Geld brachten.
Mit den Jahren war Paul LaTour immer kauziger geworden, aber auch stetig reicher. Sein bescheidenes Leben spielte sich großteils in seinem Laden ab. In seine Wohnung stieg er nur mehr hinauf, um zu schlafen. Wenn er allerdings Nachlässe besichtigte, dann wurde aus dem unrasierten, vernachlässigten Bücherwurm ein eleganter, gut gekleideter, aber auch beinharter Geschäftsmann.
So war es auch LaTour gewesen, der für den Nachlass Cannotier dreihundert Euro mehr geboten hatte als alle anderen, und so den Zuschlag bekam. Die nächsten Monate verbrachte er damit, die vier Tagebücher durchzuarbeiten. Weil er die seltsame Sprache, in der Teile der handschriftlichen Aufzeichnungen verfasst waren, nicht beherrschte, widmete er sich den französischen Teilen, dann den Fotos und den Briefen. Schließlich war seine Entscheidung gefallen, und er hatte zum Telefon gegriffen.
Zwei Anrufe später war LaTour um hunderfünfzigtausend Euro reicher.
Er hatte an den richtigen Stellen die richtigen Hinweise fallen lassen. So ging der Nachlass Cannotier per Kurierdienst nach Deutschland und England, Paul widmete sich anderen Dingen, und in dem kleinen Laden kehrte wieder Ruhe ein.
Die Glocken von der nahe gelegenen Kirche Saint Thomas d’Aquin schlugen halb sieben, als ein schweres Motorrad auf dem Behindertenparkplatz vor dem Laden anhielt. Zwei Männer in Lederjacken und schwarzen Vollvisierhelmen stiegen ab, blickten sich rasch um und stießen die Tür zur Librairie LaTour auf. Paul, der gerade in das nahe gelegene kleine Bistro auf einen Imbiss gehen wollte, kam zwischen den hohen Regalen hervor, ein Buch in der Hand, die Brille auf der Nase, und sah unwillig hoch.
»Das Geschäft ist geschlossen!«, rief er. »Kommen Sie nach neun wieder oder noch besser morgen.«
»Wir kommen nur einmal«, stellte der eine Motorradfahrer auf Englisch trocken fest und zog den Helm vom kahl geschorenen Kopf. »Und das ist jetzt.« Sein etwas kleinerer Beifahrer schloss die Ladentür und sperrte ab. Dann nahm auch er den Helm ab. Darunter kam kurz geschnittenes schwarzes Haar zum Vorschein.
»Das wird ein sehr vertrauliches Gespräch, also sollten wir dafür sorgen, dass uns
Weitere Kostenlose Bücher