Heiß
»Faszinierend«, war alles, was er sagte.
»Aber das haben Sie sicher bei Ihrer kurzen Recherche im Internet ebenfalls herausgefunden.«
»Ja, ja«, antwortete der Grieche gedankenverloren, während er wieder auf den Bildschirm und das Blatt mit den Formeln starrte, als habe er wichtigere Dinge zu tun.
Die Wissenschaftlerin verstummte verwirrt. Die große Kaminuhr in einem der Buchregale schlug zehnmal, und Siegberth warf einen Blick nach draußen. Es war dunkel geworden, in der Ferne leuchteten die Lichter von Frankfurt und warfen einen hellen Schein auf die Unterseite der Wolken, zwischen denen der Mond heraufstieg.
Als sie sich wieder Konstantinos zuwenden wollte, prallte sie zurück. Er war lautlos näher gekommen, stand plötzlich neben ihr, keine Armlänge entfernt, und sah auf sie herunter.
»Machen Sie mir noch die Freude, einen Cocktail auf der Terrasse mit mir zu trinken, bevor ich Sie in Ihr Hotel zurückbringen lasse?«, lächelte er und streckte die Hand aus. »Dabei könnte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die Sie vermutlich interessieren wird.«
»Aber ich …«, setzte Siegberth an.
»Keine Widerrede«, beharrte Konstantinos. »Umso besser werden Sie nachher schlafen.«
6 . Juli 1940 , Hafen von Dakar/Französisch-Westafrika
Kapitän Moevus war erleichtert, als er beobachtete, wie die letzte Kiste aus dem Bauch des Hilfskreuzers am Haken des Kranes schwebte und sich langsam auf die Ladefläche des Lkws senkte. Zwei Tage hatte es gedauert, die Goldflotte zu löschen. In aller Eile, unter dem Druck der französischen Admiralität, die jeden Moment einen englischen Angriff befürchtete.
»Hätten sie gestern nicht Gibraltar bombardiert, dann würden sie ruhiger schlafen«, murmelte Moevus und lehnte sich über die Reling der Brücke, um besser sehen zu können. Da kam auch schon das Zeichen aus dem Laderaum, dass die gesamte Fracht gelöscht worden war.
Außer den Kisten des mysteriösen kleinen Mannes im Anzug.
Moevus atmete auf. Einerseits war er froh, das Gold sicher an seinen Bestimmungsort gebracht zu haben, andererseits war ihm klar, dass er für seine nächste Fahrt vor ein Kriegsgericht kommen könnte. Das Urteil würde auf »Tod durch Erschießen« lauten, kein Zweifel.
Und doch …
Die Cannotiers hatten in den vergangenen Tagen den Ausschlag gegeben und ihn überzeugt, das Richtige zu tun. Dakar war kein sicherer Ort, weder für das Gold, noch für die Kisten, die nach wie vor im Bauch der Victor Schoelcher ruhten.
Sein Erster Offizier trat zu ihm, und die beiden Männer blickten auf die abziehenden Soldaten und den letzten Lkw, der in einer Dieselrauchwolke den Kai verließ. Moevus gab sich einen Ruck.
»Wir laufen in zwei Stunden aus«, sagte er ruhig. »Die Reise geht nordwärts, aber nicht weit. Lassen Sie alle Vorbereitungen treffen und schwören Sie die Mannschaft auf Stillschweigen ein. Keiner verlässt das Schiff bis zum Ablegen.«
Bevor sein Erster Offizier etwas erwidern konnte, drehte sich Moevus um und eilte von der Brücke.
Die drei Männer, die am Fuß der Gangway neben einem kleinen Stapel von Koffern auf ihn warteten, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der junge Cannotier in Shorts und einem weiten Hemd, hochgewachsen, schlank und muskulös, mit wachen Augen, die ihm neugierig entgegenblickten. Neben ihm der kleine, schmächtige Mann in seinem Anzug, der nervös und etwas verdrießlich in die Welt schaute und sich immer wieder mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Aber es war der dritte Mann, der Moevus am meisten Sorgen bereitete. Braun gebrannt, mit einem breitkrempigen weißen Strohhut auf den grauen Haaren und einer Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase, sah er aus wie einer der vielen Emigranten aus dem Mutterland, der sich vor Jahren in Dakar niedergelassen hatte. Doch das war nur Tarnung, wie Moevus in den letzten Tagen erfahren hatte. Colonel Frank Majors vom britischen Geheimdienst war eigentlich der Feind, aber dann doch wieder nicht …
Verflucht, dachte der Kapitän, wer wusste heutzutage schon, wer Feind und wer Freund war? Die Zeiten hatten sich schlagartig geändert. Alles war komplizierter geworden, unberechenbarer. Wer heute noch der Gegner Frankreichs war, konnte morgen zum Alliierten werden und umgekehrt.
»Messieurs …«, grüßte Moevus und legte die Hand lässig an die Mütze. »Ich habe das Kommando zum Auslaufen in zwei Stunden gegeben und mich dabei auf das Versprechen von Monsieur Cannotier
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