Heiße Beute
war fast Mitternacht, als ich endlich ins Bett kroch. Der Regen hatte aufgehört, und zwischen den Wolkenfetzen kam das Mondlicht hervor. Die Vorhänge vor meinem Fenster waren zugezogen, und im Zimmer war es dunkel.
Vor meinem Schlafzimmerfenster, fest in der Hauswand verankert, befindet sich eine altmodische Feuerleiter. In heißen Nächten eignet sie sich hervorragend, um mal frische Luft zu schnappen. Man kann sie zum Wäschetrocknen benutzen, um verlauste Zimmerpflanzen auszuquartieren oder um Bier kalt zu stellen, wenn es draußen kühler wird. Leider wird sie gelegentlich auch für weniger schöne Dinge missbraucht. Zum Beispiel wurde Benito Ramirez auf meiner Feuerleiter erschossen. Es ist nicht ganz einfach, meine Feuerleiter zu erklimmen, aber unmöglich ist es auch nicht.
Ich lag im Dunkeln, wog in Gedanken gerade die Vorzüge des Schokoriegels gegenüber den Butterscotch Krimpets ab, als ich ein kratzendes Geräusch hinter den zugezogenen Vorhängen vernahm. Hilfe! Jemand war auf meiner Feuerleiter! Ein heißer Adrenalinstrom schoss mir wie ein Blitz in Herz und Magen. Ich sprang aus dem Bett, lief in die Küche und rief die Polizei. Dann holte ich meine Pistole aus der Plätzchendose. Mist! Wo waren die Patronen? Ich leerte meine Umhängetasche auf den Küchentisch. Patronen fielen nicht heraus. Mist! Mist! Überleg genau, Stephanie, wo hast du die Patronen hingetan? Früher waren immer welche in der Zuckerdose. Jetzt nicht mehr. Die Zuckerdose war leer. Ich wühlte in der Küchenschublade für Krimskrams und fand schließlich vier Patronen. Die steckte ich in meine 38er Smith&Wesson und lief zurück ins Schlafzimmer.
Ich stand im Dunkeln und lauschte. Kratzgeräusche waren nicht mehr zu hören. Mein Herz raste, und die Hand, mit der ich die Pistole hielt, zitterte. Reiß dich zusammen, sagte ich mir. Wahrscheinlich war es nur ein Vogel. Eine Eule. Die fliegen doch gerne nachts durch die Gegend. Stephanie, bist du blöd, lässt dich von einer Eule erschrecken.
Ich schlich mich ans Fenster und lauschte erneut. Stille. Ich lupfte den Vorhang ein winziges Stück und spähte dahinter!
Igitt!
Auf der Feuerleiter stand ein Riese. Ich sah ihn nur einen Sekundenbruchteil lang, aber er hatte große Ähnlichkeit mit Benito Ramirez. Wie war das möglich? Ramirez war doch tot.
Plötzlich gab es einen irren Lärm, und ich merkte, dass ich alle vier Kugeln durchs Fenster auf den Mann auf meiner Feuerleiter abgegeben hatte.
Superscheiße! So was durfte mir nicht passieren. Erstens hätte ich ihn töten können. Und das kann ich nun auf den Tod nicht ausstehen. Zweitens hatte ich keine Ahnung, ob der Kerl bewaffnet war oder nicht, und das Gesetz missbilligt das Schießen auf unbewaffnete Personen. Das Gesetz ahndet ja sogar das Schießen auf bewaffnete Personen. Am schlimmsten aber war, dass mein Fenster zu Bruch gegangen war.
Ich riss den Vorhang zur Seite und drückte mir die Nase an der Scheibe platt. Draußen war niemand zu sehen. Ich schaute genauer nach und entdeckte, dass ich einen lebensgroßen Pappkameraden zerfetzt hatte. Er lag daniedergestreckt auf dem Absatz der Feuerleiter, durchbohrt von vier Kugeln.
Ich stand wie angewurzelt da, atmete schwer, hatte die Pistole noch in der Hand, da hörte ich in der Ferne Polizeisirenen heulen. Gut gebrüllt, Stephanie. Da rufe ich einmal im Leben die Polizei, und dann stellt sich heraus, dass es falscher Alarm war. Ein böser Streich. Wie bei den Schlangen.
Trotzdem: Wer würde so etwas tun? Wer käme auf so eine Idee? Jemand, der wusste, dass Ramirez auf meiner Feuerleiter den Tod gefunden hatte. Aber: Das ganze Land wusste davon. Es hatte in allen Zeitungen gestanden. Also gut, wer kam noch in Frage? Jemand, der sich einen lebensgroßen Pappkameraden mit dem Konterfei von Ramirez besorgen konnte. Zu der Zeit, als Ramirez noch in den Ring gestiegen war, hatte es solche Pappfiguren zuhauf gegeben. Jetzt schwirrten nicht mehr so viele davon herum. Mir kam nur ein Mann in den Sinn, der noch eine übrig haben könnte: Eddie Abruzzi.
Ein Streifenwagen fuhr mit Blaulicht auf meinen Parkplatz, und ein Bulle stieg aus.
Ich machte das Fenster auf und lehnte mich hinaus. »Falscher Alarm«, rief ich nach unten. »Es ist niemand hier. Muss ein Vogel gewesen sein.«
Der Bulle schaute zu mir hoch. »Ein Vogel?«
»Ich glaube, es war eine Eule. Eine Rieseneule. Tut mir Leid, dass ich Sie gerufen habe.«
Er winkte ab, stieg in seinen Wagen und fuhr wieder davon.
Ich
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