Heiße Beute
sollte meine Schwester zu diesem Zeitpunkt bei der Arbeit sein. Ich stellte mich hinter ihren Wagen und sprang ins Haus. Am Küchentisch saßen Grandma Mazur, meine Mutter und Valerie. Jeder hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen, aber keiner rührte sie an.
Ich holte mir ein Mineralwasser und ließ mich auf dem vierten Stuhl nieder. »Was ist los?«
»Deine Schwester hat ihre Stelle in der Bank verloren«, sagte Grandma Mazur. »Sie hat sich mit ihrem Chef angelegt. Der hat ihr zum Dank umgehend gekündigt.«
Valerie hatte sich mit jemandem angelegt? Die Heilige Valerie? Die Schwester mit der Charakterstruktur eines Vanillepuddings?
Als Kind lieferte Valerie ihre Hausaufgaben immer rechtzeitig ab, machte ihr Bett, bevor sie den Schulweg antrat, und soll eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit der andächtigen Gipsstatue der Heiligen Jungfrau Maria in den Vorgärten und Kirchen von Burg gehabt haben. Selbst das Kommen und Gehen von Valeries Periode hatte etwas Andächtiges, sie kam stets pünktlich, auf die Minute, der Fluss war zart, die Stimmungsschwankungen reichten von freundlich bis scheißfreundlich.
Ich war die Schwester, die Krämpfe bekam.
»Was ist passiert?«, fragte ich. »Wieso hast du dich mit deinem Chef angelegt? Du hast die Stelle doch gerade erst angetreten.«
»Sie war uneinsichtig«, sagte Valerie. »Und gemein. Ich habe nur einen winzigen Fehler gemacht, und sie hat ein Riesentheater deswegen veranstaltet, mich vor allen Leuten angebrüllt. Statt mich zu beruhigen, habe ich zurückgebrüllt. Und schon wurde ich vor die Tür gesetzt.«
»Du? Gebrüllt?«
»Ich erkenne mich in letzter Zeit selbst nicht wieder.«
Sag bloß. Letzten Monat verkündete sie, sie wolle ab jetzt als Lesbe leben, und heute fing sie an, Leute anzubrüllen. Was würde da wohl noch auf uns zu kommen? Kopfrotation um hundertachtzig Grad?
»Was hast du denn falsch gemacht?«
»Ich habe etwas Suppe verschüttet. Mehr nicht. Ich habe nur etwas Suppe verschüttet.«
»Es war eine Fertigsuppe, so eine ›heiße Tasse‹«, sagte Grandma. »Die mit den nudeligen Spurenelementen drin. Valerie hat die Tasse auf einem Computer verschüttet, die Flüssigkeit ist durch die Ritzen gesickert und hat das ganze System lahm gelegt. Beinahe hätten sie für heute die Bank schließen müssen.«
Ich wollte nicht, dass Valerie Schlimmes widerfuhr, aber dennoch war es irgendwie eine Genugtuung, sie nach einem Leben in Perfektion auch mal abscheißen zu sehen.
»Ist dir noch irgendwas Neues zu Evelyn eingefallen?«, fragte ich Valerie. »Mary Alice sagte, sie und Annie seien Freundinnen gewesen.«
»Schulfreundinnen«, sagte Valerie. »Ich glaube, ich habe Annie nie gesehen.«
Ich schaute hinüber zu meiner Mutter. »Hast du Annie gekannt?«
»Als sie noch kleiner war, hat Evelyn sie schon mal hergebracht, aber als dann vor ein paar Jahren die Probleme mit Evelyn losgingen, haben die Besuche aufgehört. Und Annie ist nie zusammen mit Mary Alice hier bei uns zu Hause gewesen. Deswegen glaube ich nicht, dass Mary Alice je über sie gesprochen hat.«
»Jedenfalls nicht so, dass wir es hätten verstehen können«, sagte Grandma. »Wer weiß, vielleicht hat sie etwas in ihrer Pferdesprache gesagt.«
Valerie wirkte ziemlich niedergeschlagen, schob mit dem Finger ihr Plätzchen auf dem Teller hin und her. Wenn ich niedergeschlagen gewesen wäre, das Plätzchen hätte keine Chance gehabt. Apropos …
»Willst du das Plätzchen haben?«, fragte Valerie.
»Die kleinen Nudeln in der Suppe haben bestimmt wie Würmer ausgesehen«, sagte Grandma. »Wisst ihr noch, als Stephanie Würmer hatte? Der Arzt meinte damals, das käme vom Salat. Er sagte, wir hätten die Salatblätter nicht gründlich genug gewaschen.«
Die Würmer hatte ich ganz vergessen. Sie gehörten nicht gerade zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen, ebenso wenig wie der Tag, an dem ich Anthony Balderri Spaghetti und Fleischbällchen in den Schoß kotzte.
Ich trank mein Mineralwasser aus, aß Valeries Plätzchen und begab mich nach nebenan zu Mabel.
»Gibt’s was Neues?«, fragte ich sie.
»Der Kautionsmakler hat noch mal angerufen. Die können mich doch nicht einfach so aus dem Haus werfen, oder?«
»Nein. Das muss erst diverse juristische Wege gehen. Und der betreffende Kautionsmakler ist seriös.«
»Seit Evelyn weg ist, habe ich nichts mehr von ihr gehört«, sagte Mabel. »Ich hätte fest damit gerechnet, dass sie sich zwischendurch mal meldet.«
Ich ging
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