Heißer Schlaf
verwirklichen.
Man hatte zuerst keine Leute bekommen, die ihre Zeit dafür opfern wollten, die Straße mit Geröll zu befestigen. Darum hatte Noyock bei den älteren und wohlhabenderen Leuten eine Umlage erhoben, nicht an Arbeitszeit, sondern an Naturalien, und diese Naturalien wurden an die jüngeren Männer verteilt, deren Farmen noch nicht produzierten oder die das Gewerbe noch lernten. So brauchten die älteren Leute ihre Zeit nicht für öffentliche Arbeiten zu verschwenden, während die jüngeren für das Gemeinwohl arbeiteten – und dabei nicht verhungerten.
Der Erfolg blieb nicht aus. Ein regenreicher Sommer hatte es bewiesen: Während jeder andere Weg in Himmelsstadt im Schlamm versank, war es bei Noyocks Weg anders. Er führte vom Hauptteil der Stadt an Noyocks Stadt vorbei über den Hügelkamm nach Linkerees Bucht, und überall lief das Wasser ab oder versickerte einfach, und während des ganzen Sommers blieb kein einziger Wagen stecken. Mit diesem Beweis vor Augen hatten die Leute sich nicht mehr geweigert, alle Wege des Hauptteils der Stadt und ein gutes Stück des Wienwegs – bis zur Schmiede – mit Steinen zu befestigen. Jason würde zufrieden sein.
Erstfeld war schon voll. Nach der Zählung vom letzten Winter gab es in Himmelsstadt insgesamt 1394 Menschen. Zwanzig waren in den Sternenturm gebracht worden. Während der gesamten Geschichte von Himmelsstadt waren bisher acht Leute gestorben, an Unfällen oder, wie im Falle einiger Eisleute, an den seltsamen und unerklärlichen Krankheiten des Alters. Noyock konnte die Babys, die seit dem letzten Winter geboren wurden, nicht mehr zählen – zur Zeit schien fast jede Frau schwanger zu sein, und Linkerees Sohn Torrel hatte Noyock erzählt, daß heutzutage »jede dritte Person eine Wiege brauche«.
Noyock kam und stellte sich an den für den Aufseher bestimmten Platz. Er wartete, bis die untergehende Sonne ganz hinter dem schmalen Schaft verschwunden war, der aus dem Sternenturm herausragte. Er brauchte nur wenige Minuten zu warten, als die Bürger von Himmelsstadt auch schon vor Freude jauchzten, denn ihre Erwartungen hatten sich erfüllt. Vor dem Sternenturm erschien ein dunkler Fleck, und der schlanke Schaft senkte sich langsam bis zum Boden herab.
Aber Noyocks Freude verwandelte sich bald in Entsetzen. Jason war nicht allein. Und er brachte sonst nur dann einen Erwachsenen aus dem Sternenturm mit, wenn er einen der Schläfer als Aufseher einsetzen wollte. Habe ich meine Aufgabe in diesem Jahr so schlecht erledigt, fragte sich Noyock, daß Jason mich jetzt schon ablösen läßt? Aber das wäre unfair – er hat noch nicht einmal meine Arbeit inspiziert. Und ich habe in meinem ersten Amtsjahr gute Arbeit geleistet. Nein, das wäre nicht fair.
Aber als sich der Schaft immer weiter senkte, erkannte Noyock, daß der Mann neben Jason ein Fremder war. Er war blond und sah blaß aus; offensichtlich war er noch nie in der Sonne gewesen; dennoch wirkte er kräftig und intelligent – aber wer war das? Noyock kannte alle Eisleute, und in der ganzen Stadt kannte er jeden, der älter als zehn Jahre war, wenigstens vom Ansehen. Dieser Mann war neu.
Jason und der Fremde kamen jetzt unten an, und Jason stieg aus dem Stuhl, in dem er gefahren war, hob die Arme und grüßte sein Volk. Alle sprangen auf. Sie applaudierten. Sie schrien. Sie weinten und lachten und einige sangen. Und da er sie alle repräsentierte, trat Noyock vor, um Jason zu umarmen. Aber Noyock konnte seine Besorgnis nicht verbergen, und, wie immer, schaute Jason ihm ins Herz. Als sie einander umarmten, flüsterte Jason: »Noyock, mein Freund, dieser Mann ist nicht hier, um dich abzulösen. Du hast gute Arbeit geleistet. Du bleibst Aufseher, und du hast mein ganzes Vertrauen.«
Und jetzt war Noyock wegen des Fremden eher neugierig als besorgt. Bis ihm einfiel, wer dieser Mann sein mußte –
»Der hundertelfte der Eisleute«, rief Noyock.
»Was?« fragte Jason. Aber Noyock hatte sich schon der Menge zugewandt. »Jason hat den hundertelften der Eisleute mitgebracht. Den letzten der Eisleute! Wie Kapock es in der Chronik prophezeit hat! Der letzte der Eisleute ist gekommen!«
Die Leute standen wie gelähmt da, und den hilflosen Ausdruck in Jasons Gesicht bemerkte Noyock kaum, als er dem Fremden bedeutete vorzutreten. »Sehen Sie?« hörte Noyock Jason sagen, aber er wußte nicht, was er meinte. Jason trat vor und brachte den Fremden mit. Er gebot mit erhobener Hand Schweigen.
»Euer Aufseher
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