Heißer Zauber einer Nacht
ob er nun der Bruder des Captains ist oder nicht.« Selbst durch die dicke Tür konnten sie am Klang der Stimme hören, dass Livett die Meinung des Kochs teilte.
»Ich werde dafür sorgen, dass dieser Halunke an Land gesetzt wird«, murmelte Colin.
»Ich wollte mit dir auch über ihn reden«, bekannte Georgie. »Ich glaube, er hat meine Schwester geküsst.«
Colin winkte ab. »Deine Schwester ist erst seit gestern Nacht an Bord. Nicht einmal Rafe geht so schnell zur Sache. Außerdem ist er erst zwölf.«
»Er ist dein Bruder«, bemerkte sie trocken.
Colin schüttelte den Kopf. »Halbbruder«, korrigierte er.
»Offenbar hat er deine unverbesserliche Seite geerbt«,
scherzte Georgie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.
»Captain, kommt Ihr bitte?« Livetts Stimme klang fast flehend.
»Hm«, flüsterte Colin in ihr Ohr. »Ich werde so lange fort sein, wie es dauert, ihn zu ertränken. Geh mir unterdessen nicht verloren.«
»Wohin sollte ich denn schon gehen?«
Als er die Tür öffnete, bestürmte Livett ihn mit einer Litanei von Klagen über Rafes jüngste Missetaten. Er setzte sein Trommelfeuer von Beschwerden fort, während die beiden Männer zur Kombüse eilten.
Und plötzlich war Georgie allein in Colins Kabine.
Allein. Das war die Chance, die Wahrheit über diesen rätselhaften Mann herauszufinden.
Sie blickte über die Schulter zur offen stehenden Tür. Niemand war auf dem Gang jenseits davon zu sehen, aber um sicher zu sein, schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür und schob sie bis auf einen kleinen Spalt zu.
Sie holte tief Luft, blickte sich in der Kabine um und stellte fest, dass sie noch genauso schlicht war wie zu Captain Tafts Zeit. Die einzige Dekoration, vom ursprünglichen Besitzer übrig geblieben, war die kunstvoll geschnitzte Holzvertäfelung. Sie strich mit den Fingerspitzen über das Muster und zählte die Blumen, bis sie zur achten gelangte, von achtern aus gezählt. Dort tastete sie an der Unterseite der Täfelung nach dem Schnappriegel.
Das hatte sie als Kind unzählige Male getan, nur so aus Spaß, doch diesmal zitterte ihre Hand so sehr, dass sie den kaum erkennbaren Riegel verfehlte. Beim zweiten Versuch ertastete sie die Vertiefung, die sie suchte, und drückte darauf.
Vor ihren Augen sprang das Fach auf. Sie blickte wieder hastig zur Tür und lauschte mit angehaltenem Atem nach Geräuschen, die Colins Rückkehr ankündigten.
Sie sollte dies hier nicht tun. Es war falsch. Sie sollte ihm vertrauen. Ihrem Herzen glauben. Hatte sie nicht Kit immer wieder gesagt, dass man belohnt wird, wenn man ehrlich ist und nichts Falsches tut?
Aber die Wahrheit liegt direkt vor deinen Augen, flüsterte eine innere Stimme. Greif nur zu, dies könnte deine einzige Chance sein.
Zufrieden, weil Colin noch mit seinem ungezogenen Bruder beschäftigt war, griff sie in das Geheimfach.
Das Erste, was ihr in die Hand fiel, war ein Bündel, das in ein Stück Seide eingewickelt war. Sie wollte es zur Seite schieben, als etwas daran sie innehalten ließ. Sie hätte schwören können, die harte Kante eines Schuhabsatzes berührt zu haben.
Ein Schuh? Warum würde Colin einen Schuh in einem Safe aufbewahren?
Sie bekam eine Gänsehaut.
Er hatte doch nicht... nein, das konnte nicht sein ...
Ich habe dich gesucht, hatte er behauptet.
Mit zitternder Hand zog sie das Bündel heraus und legte es auf den Tisch, starrte einen Moment darauf, bevor sie die Schnur aufband, mit der die Seide zusammengebunden war.
Als sie sah, was das Bündel enthielt, schnappte sie nach Luft.
Ihre verloren gegangenen Schuhe - beide. Der Schuh, den sie in Bridwick House und der, den sie in der Gasse verloren hatte.
Überrascht und erstaunt starrte sie darauf.
Er musste am nächsten Tag zurückgegangen sein und ihren fehlenden Schuh geholt haben. Das bedeutete, dass er nach ihr gesucht hatte.
Sie strich über die kunstvolle Stickerei auf den Schuhen, die jetzt ein sichtbarer Beweis seiner Liebe waren.
Captain Colin Danvers war nicht nur nett, wie Kit behauptet hatte. Er war auch ein unheilbarer Romantiker.
Ein Mann, der im Abfall einer Gasse nach einem verlorenen Schuh suchte, würde sicherlich sein Mündel nicht zu einer scheußlichen Heirat zwingen ... er konnte kein herzloser Schuft sein, der das Vertrauen ihres Vaters missbraucht hatte.
Vertraue ihm, verlangte ihr Herz. Glaube an ihn.
Georgie atmete tief durch und blickte wieder das Geheimfach in der Wand an. Sie würde die Schuhe darin verstauen
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