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Heiter. Weiter.

Heiter. Weiter.

Titel: Heiter. Weiter. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Heininger
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Art von Schutz.
    Plötzlich stehe ich vor dem Schmuddelladen, vor dem der Wanderführer gewarnt hatte: Les Quatre Chemins. Gäste sitzen im Garten, von aufmerksamen Hühnern bewacht. Das Café ist eine Mélange aus Irish Pub und Reeperbahnlokal der guten alten Zeit. Es ist ein wunderschönes Lokal voller Atmosphäre, ein Highlight auf der Via Podiensis. Madame ist nachlässig frisiert und schlecht geschminkt, es ist noch recht früh. Sie parliert, sie charmiert. Regine war einmal eine attraktive Frau, nikotingelbe Fotos an den Wänden stützen meine These.
    Eine Dame sitzt am Tresen, trinkt Ricard. Ich bestelle Rotwein. Im Radio spielt man das Lied von Sacco und Vanzetti. Die Dame singt mit, ich stimme ein mit der deutschen Version von Väterchen Franz-Josef Degenhardt. Regine gibt mir ein halbes Glas aus. Draußen hält ein schwerbeladener Laster mit Stammholz. Die Männer kommen ins Café, haben Feierabenddurst. Die Holzfäller langen tüchtig zu, sie haben heute wohl viele Stämme gefällt. Stammgäste.
    Auch der Vorbeilaufkundschaft wird in der Gîte Les Gentianes was zum Essen hingestellt. Auf der Wiese vor dem überaus sauberen Haus darf man zelten. Wenige Meter entfernt am Weg ein Gedenkstein für einen von hier stammenden Mann, der Buchenwald überlebte und nach der Befreiung in Peru als Missionar arbeitete. Auf dem Stein seine Worte: „Ich habe so sehr gelitten, dass ich das Leiden anderer nicht unterstützen kann.“
    In Rieutortet d’Aubrac wurde für vorbeipilgernde Wanderer aus Wohnwagen und Holzhäuschen eine Bar errichtet. Davor wächst Klee in Weiß und Lila, etwas Gelbblühendes hat sich hinzugesellt. Dass es so eine Weidewiese noch zu Zeiten des landwirtschaftlichen Fortschrittes gibt! Ich möchte mich gerne in dieses Blumenmeer hineinlegen, darin baden. Doch ich muss weiter, es ist spät.
    In Nasbinals funktioniert der Geldautomat. Doch wäre es so dramatisch, zwei Tage ohne Geld auszukommen? Um Brot zu bitten? Auf dem Campingplatz sehe ich die Blumen der Weidewiese in Weiß, Lila und Gelb. Jetzt darf ich mich hineinlegen. Mir wird bewusst, auf dem Jakobsweg geht es nicht nur darum, etwas zu gewinnen, sondern auch zu verlieren: Den Drang, seinen Wünschen und Verlangen ständig hinterherzulaufen. Man gewinnt beim Verlieren.

Auch heute kann ein Wolf dem Pilger noch sehr viel Leid zufügen

    In Nasbinals entschließe ich mich, einige Straßenkilometer zu absolvieren. Das ist nicht jederwandermanns Fall, aber ich tippele gerne am Straßenrand entlang. Nur wenige Fahrzeuge stören meine Gedankenwelt. Ich brauche nicht ständig nach Wanderzeichen Ausschau halten und verlaufe mich nicht. Täglich fünfundzwanzig, dreißig Kilometer zu schaffen ist anstrengend. Packt man mehr, hat man kaputte Füße, macht man weniger, ein schlechtes Gewissen. Die Pfade sind steinige Pisten, keine butterweichen Sonntagnachmittagspazierwege, wie wir sie aus unseren Mittelgebirgen kennen. Immer auf die Markierungen achten, genau schauen, wo man hintritt. So hat der Wanderer oft leider keinen Blick für die Schönheit der Landschaft.
    Diese Gegend war einst für den Pilger noch gefahrenvoller. Um den Weg zu weisen, schlugen Mönche des Hospiz von Aubrac bei Nebel oder Schnee in kurzen Abständen die Glocke. Das Kloster war Stiftung eines vermögenden Wallfahrers, der hier nur knapp den Räubern und damit dem Tod entkommen war. „Nacht ist es und Stürme sausen für und für, hispanische Mönche, schließt mir auf die Tür!“ Gefürchtet waren auch die Wölfe. Der letzte wurde erst um 1800 erlegt.
    Ich verlasse die Autostraße. Der Weg führt bergab. Etwa 900 Meter Höhenunterschied muss ich in den nächsten Stunden bewältigen. Nach unten. Dadurch spüre ich in neuen Bereichen meiner Schuhe Druckstellen, die dem Fuß Probleme bereiten könnten.
    Der Weg wird zum Pfad. Nach der Schneeschmelze oder starkem Regen wird dieser Pfad sicher zum reisenden Gebirgsbach. Der Wanderer geht über Stock und Stein. Er muss stets nach unten blicken, da lauern Steinbrocken, Wurzeln, Löcher. Nach oben schauen, hier droht durch tiefhängende Äste Verletzungsgefahr. Irgendwo stand ein Tisch mit Kaffee, Tee, Wasser und Spendenbüchse. Unversehrt erreiche ich Saint-Chély-d’Aubrac.
    Es geht weiter bergab. Bis zum Campingplatz am Fluss Lot in Saint-Côme-d'Olt muss ich mich noch ein paar Stunden quälen. Ich habe Glück: Bei der Ankunft haben Lebensmittelladen, Metzger und Bäcker noch geöffnet - meinem üblichen abendlichen Picknick

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