Heiter. Weiter.
Bernhardiner-Mischling, begleitet mich mehr als eine halbe Stunde schon. Wo er nur hingehört? Findet er wieder heim? Auf einmal macht der riesige Kerl kehrt und rennt den Weg zurück. Ich blicke ihm hinterher, er wird kleiner und kleiner, bis er für mich verschwunden ist. Fühlte auch er sich einsam? Schade, dass man der Rasse das für sie charakteristische und für mich praktische Fässchen am Hals weggezüchtet hat. Lavoûte-sur-Loire. Hier wollte ich campieren, bis nach Le Puy ist es zu weit. 2004 hatte ich viel Spaß im erhöht unter Bäumen thronenden „Les Tilleuls“, ein Gasthaus mit nettem Wirt. Ein Gast meinte: „Oh, Saint Jacques!“ und, auf sein Glas deutend, „Saint Jack Daniels“. Ich deutete „Tilleul“ damals als Till Eulenspiegel. „Les Tilleuls“ sind jedoch die Linden, wo wir uns finden zur Abendzeit. Vorbei. Der Wirt ist gestorben, die Witwe hat das Gasthaus verkauft. Da will auch ich nicht bleiben und werde durchziehen - bis nach Le Puy! Und dort gleich zum Schuster.
Der Wanderer entfaltet seine Karte. Positionsbestimmung: Wo stehe ich? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Nicht nur auf dem Jakobsweg sollten wir uns diese Frage stellen.
Le Puy-en-Velay. Ich bin angekommen, fix und fertig. Geschafft, aber geschafft. Das Pilgerbüro in der Rue Cardinal de Polignac 29 ist am frühen Abend geöffnet. Jakobusfreunde aus der Stadt beraten Neuankömmlinge beim Glas Kir über Weg und Herbergen. Ich übernachte in der modernen „Gîte d'Etape des Capucins“ in der Rue des Capucins 29. Ich hatte zu dem deutschsprachigen Haus meine Karten und Führer, die ich bis zu den Pyrenäen benötige, geschickt. Jetzt soll man an mir etwas verdienen. Und nichts wie hin zum Schuhmacher. Ich hoffe, am Samstag sind die Sohlen drauf, sonst muss ich bis Dienstag warten: Montag ist ein Feiertag.
Arme Pilger brauchen ihren Kaviar nicht einzuweichen
Schwerter zu Pflugscharen, Spieße zu Sicheln - damit hat man sich in Le Puy-en-Velay gar nicht aufgehalten: Kanonen wurden eingeschmolzen und daraus eine riesige Marienstatue gegossen, allerdings aus feindlichen, im Krimkrieg erbeuteten Geschützen. Generationen von Pilgern sind durch die Stadt gewandert in Richtung Santiago. Viele hatten als Proviant die grünlichen, blau gesprenkelten Linsen dabei, die hier seit Christi Geburt angebaut werden. Man braucht sie nicht einzuweichen. Da sie so klein sind, werden sie nach wenigen Minuten gar. Dank ihres wunderbaren Aromas erhielten die „Lentilles Vertes du Puy“ den Titel „Kaviar der Armen“. Pilgerführer sind voll von derartigen Informationen. Ich möchte mich mit Unbedeutendem befassen und die ausgetretenen touristischen Pfade der Stadt anderen überlassen. Ich bin mit Müllmännern und Straßenfegern in der „Bar de Sports“, Place de Liberation 41, beim Frühstück. Ebenso freundlich, jedoch später öffnend, die „Marinbar“ Hausnummer 31, am gleichen Platz. Auf dem Wochenmarkt kaufe ich Proviant für den morgigen Tag: Brot und Käse, Paprika und Äpfel. Und das Wetter? Die Sonne scheint ins Gemüt, doch am Horizont wollen Wolken den Wetterbericht bewahrheiten.
Gestern Abend verspeiste ich eine Pizza. Man schätzt in Le Puy eine ungewöhnliche Variante: mit Linsen. Die fröhlichen Gäste im kleinen Restaurant waren sehr an einem Gespräch mit dem fremden Wanderer interessiert, wollten wissen woher, wohin. Sprachschwierigkeiten kamen erst gar nicht auf - dank der „Kontaktlinsen“.
Das Wichtigste: Ich habe einen Cordonnier gefunden, der mir versprochen hat, bis zum Nachmittag meine Schuhe neu besohlt zu haben - obwohl er viel zu tun hat. Ich harre im Café „Calypso“ in der Rue Saint-Jacques. Gegenüber, in der Hausnummer 42, hämmern fleißige Schusterhände auf meinen Schuhen herum. Regentropfen hämmern ohne Pause ans „Calypso“-Fenster. Charles Aznavour singt dazu, draußen bringen Regenbeschirmte ihre samstäglichen Einkäufe ins Trockene.
Endlich ist der vereinbarte Zeitpunkt gekommen und ich betrete die Schusterwerkstatt. Mein „bonjour“ klingt irgendwie nach „Paa Schuh“, doch der Meister hat verstanden. Stolz zeigt er mir die erneuerten Wanderschuhe. Jetzt steht meinem Jakobsweg nichts mehr im Weg.
Ich hatte keine Lust, Sonntag und sohlenbedingt auch noch am Montag, dem französischen Nationalfeiertag, in Le Puy zu bleiben. Die Schuhe sind fertig geworden, das ist Feiertag für mich genug. Morgen erfolgt ein neuer Aufbruch: Das Teilstück des Jakobsweges bis nach
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