Heiter. Weiter.
Saint-Jean-Pied-de-Port, laut Wanderführer 730 Kilometer, wartet. Ich bin zuversichtlich: In etwa vier Wochen werde ich die spanische Grenze erreicht haben.
Ich bin losgerannt wie ein lange eingesperrter Hund
In der Kathedrale Notre-Dame-de-France von Le Puy-en-Velay nehmen die Pilger an der Messe teil, erhalten den Pilgersegen. Beim Verlassen der Kirche genießen wir von hier oben den Blick auf die Stadt. Doch nicht zu lang: Wir wollen los! Das Klacken der Wanderstöcke hallt durch den Morgen und die Gassen. Wie Millionen Pilger vor uns, ziehen wir durch die Rue Saint-Jacques, vorbei an Cordonnier und Calypso, und die Rue Compostelle hinaus aus der Stadt. Unser Weg auf der Via Podiensis in Richtung Santiago hat begonnen.
Ab Le Puy helfen einige Bücher dem Pilger weiter. Praktisch ist der nur wesentliche Informationen beinhaltande Wanderführer „miam-miam-dodo“ in französischer Sprache. Dank der Symbole ist er auch ohne Sprachkenntnis nutzbar. Miam-miam-dodo, ausgesprochen „Hamm-hamm-du-du“ - mit Hilfe dieser Babysprache sollen schon im Mittelalter Sprachunkundige Nahrung und Schlafplatz gesucht haben. Das beruhigt mich, denn auch in diesem Buch wird ja viel gegessen, getrunken, geschlafen.
Jetzt wird aber marschiert! In La Roche steht noch immer der kleine, rührende Getränkestand: „boisson gratuite - café, thé, sirop“. Hoffentlich vergisst keiner seine Spende. Mit meinem üblichen Tempo werde ich gut vorankommen, schließlich habe ich ja in den vergangenen Wochen Kondition und Selbstvertrauen gesammelt. Doch nahe Saint-Christophe ziehen andere an mir vorbei. Bin ich zu langsam? Mit meinem Kilometerschnitt war ich doch bisher zufrieden! Später sehe ich einige Überholer auf einer Wiese rasten, die Füße im kühlen Bach: K.o. schon in der ersten Runde. Für die Erschöpften war es heute der Starttag. Übermotiviert haben sie losgelegt, jetzt geht nichts mehr. War ich klüger gewesen bei meinem Wanderbeginn vor fast zwei Monaten? Statt sachte die Kilometerzahl zu steigern, bin ich losgerannt wie ein lange eingesperrter Hund. Doch im Gegensatz zum Mensch holt sich ein Tier keine Blasen.
Mit dem Erreichen von Bains habe ich den Hauptteil der heutigen Etappe hinter mich gebracht. Ich leiste mir im Restaurant ein schmackhaftes und üppiges Mahl. Hinunter führt der Weg ins Tal des Allier nach Saint-Privat-d’-Allier. Die letzten Kilometer gehe ich auf dem Seitenstreifen der kurvenreichen Straße nach Monistrol-d’-Allier. Ich übernachte in der einfachen kommunalen Gîte am Ortseingang. Obwohl viele Pilger unterwegs sind, sind wir hier nur zu zweit - in separaten Räumen.
Der Pilger will finden, zu sich finden. Wird es ihm gelingen? Er wird auch andere Menschen finden, auf und am Jakobsweg. Der nächste Mensch wird zum Nächsten. Begegnung. Freundschaft. Nächstenliebe.
Der liebe Nächste wird nachts lärmen und schnarchen und rascheln.
Der Völler Rudi, das „Haus zum Fliegenpilz” und Kain und Abel
In Monistrol-d’Allier muss der Fluss auf einer vom Eiffelturm-Eiffel konstruierten Brücke überquert werden. Sie vibriert ein wenig, für mich ein wenig zuviel. Zwei Pilgerinnen beobachten mich, heldenmütig schreite ich nun voran. Bald geht es steil nach oben. Das macht Hunger, das macht Durst. Anders als in meinem Wanderführer angegeben, gibt es unterwegs eine gewisse Infrastruktur für den Pilger. Am Weg werden Wanderstäbe angeboten, mehr noch: Es gibt doch Einkehrmöglichkeiten.
In Vernet ist in einer Garage ein Ausschank eingerichtet: In der „Buvette Bar La Coquille“ bedient Monsieur Néne vom Rollstuhl aus seine Gäste mit Getränkedosen und Kartoffelchips. Kaffee schenkt er in güldene Tässchen ein. Durch einen Vorhang ist der Gastraum vom Stall abgetrennt. Die Lokalität wird auch von Fliegen gerne besucht. Wer möchte, darf den Grill im Garten anfeuern. Daneben steht eine lebensgroße Pilger-Statue, dem Völler Rudi nicht unähnlich. Auch in Rognac hat sich eine Restauration etabliert. Im Gartenhaus, von Madame liebevoll „chateau“ genannt, nimmt der ausgezehrte Wandersmann Platz. Im Billy-Regal sind verkäufliche Waren ausgestellt: Pilze, getrocknet oder eingemacht. Die Deckel haben die Form einer Steinpilz-Kappe. Mein Omelett ist ein Pilz-Omelett. Auch hier wimmeln Fliegen, sogar auf dem Besteck ist die Laguiole-Fliege zu sehen. Ich taufe das Lokal „Gartenhaus zum Fliegenpilz“.
In Saugues entscheide ich mich, den Weg zu verlassen und der Landstraße zu folgen.
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