Heiter. Weiter.
So kann ich in der winzigen Bar in Esplantas mit der netten, mir von der ersten Wanderung bekannten Wirtin, etwas plaudern. Ohne Fliegen. Später bietet ein Bauer vor dem Hof Tomaten an, deren Form sicher nicht der europäischen Norm entsprechen -ich auch nicht. Ich kaufe Tomaten. Bauer und Pilger freuen sich.
Müde erreiche ich Chanaleilles. Hier gibt es zwei Gîtes. Ich entscheide mich erneut für die Unterkunft, in der ich damals nächtigte. Den Besitzern gehört auch das Lebensmittellädchen und die lebhafte Bar. Der Übernachtungspreis ist hoch, dafür steht mir ein komplett eingerichtetes Haus zur Verfügung - gedacht als Feriendomizil für eine Familie. So viel Vertrauen wird nicht immer den Wanderern entgegengebracht.
Dem Sesshaften sind Wanderer suspekt. Wanderer sind Fremde, die man nicht einordnen kann. Der Sesshafte weiß nicht, kann nicht wissen, was der Wanderer besitzt. Er weiß nur, was der Wanderer nicht hat, nicht besitzt: Haus und Bett. Aber auch keine Verpflichtung, keine Regelmäßigkeit und keine Ordnung. Insgeheim beneidet der Sesshafte den Wanderer. Kain war neidisch auf Abel. Der sesshafte Bauer Kain war neidisch auf den wandernden Hirten Abel. Bin ich jetzt zu weit gegangen?
Ausdauer und Geduld braucht der Pilger, aber auch Disziplin
Bruder Jakob, schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken? Niemand muss mich heute Morgen aus dem Bett zerren. Ich will raus auf den Weg. Wandern. Ich bin dankbar, die Erfahrung des Pilgerns machen zu dürfen. Ein Geschenk! Meist bin ich guter Dinge und freue mich meiner Pilgertage. Doch es gibt Tage, da habe ich keine Lust, 25 Kilometer aufs Parkett zu legen. Ausdauer und Geduld sind wichtig auf einer langen Strecke, aber auch Disziplin.
Manchen Wandertag gehe ich an wie einen Arbeitstag. Ich teile ihn mir ein in mehrere Zeitabschnitte, dann verliert er seinen Schrecken. Prinzip „teile und herrsche“. Mein Wanderführer in Buchform gibt zum Beispiel die Länge einer Tagesetappe mit 27 Kilometer an. Ich schaffe etwa vier Kilometer in der Stunde. Da benötige ich also ungefähr sieben Stunden für diese Strecke. Großzügig wie ich bin, gebe ich noch eine Stunde dazu. Und eine Stunde Pause, insgesamt. Das macht dann zusammen neun Stunden. Es ist jetzt acht Uhr. Das bedeutet, spätestens um 17 Uhr habe ich dann das Ziel erreicht. Nach Möglichkeit werde ich so alle zwei, drei Stunden eine kleine Rast einlegen.
Alleine starte ich in Chanaleilles. Die meisten Pilger werden die Nacht in der Domaine du Sauvage übernachtet haben. Ich gehe meinen eigenen Weg, wandere à la Wanderkarte. Am Rastplatz vor einer Quelle tummeln sich Leute. Mit dem Auto sind sie herbeigekommen und füllen sich Wasser in Kanister und Flaschen. Das Quellwasser soll helfen bei Augenerkrankungen. Auch zwei Wanderer lagern am Born. Einer kühlt sich die Füße mit dem Quellwasser. Vielleicht hat er Hühneraugen. Aber das kalte Wasser wird die Haut der heißen Füße weichen und dadurch für Blasen anfälliger machen.
Bald passiere ich Saint-Alban-sur-Limagnole. Noch 1459 Kilometer bis nach Santiago de Compostela meldet ein Schild in Les Estrets. Das schaffe ich doch. Und noch weiter.
Pilger wandern nach Santiago. Sinn und Ziel der Reise sind ihnen klar. Für die Menschen ist es nicht immer so im Leben. Sie erkennen oft nicht den Sinn, warum sie aufgebrochen und ins Leben gestartet sind bei ihrer Geburt. Sie wurden nicht gefragt, ob sie überhaupt ins Leben wollen, in ein Leben, das mehr aus Schmerzen als aus Scherzen zu bestehen scheint. Sie wissen nicht, wo sich das Ziel ihres Lebens befindet. Sie gehen irgendwohin, aber nicht in sich. Aumont-Aubrac ist mein heutiges Ziel. Zunächst gehe ich zum Geldautomaten. Ein Zettel verrät: „en panne“. Mein Geld reicht noch ein paar Tage. Wo ist der Campingplatz? Fast drei Kilometer außerhalb. Da muss ich meine letzten Kräfte bündeln und da noch hintippeln. Zu meiner Überraschung bin ich nicht der Einzige, acht weitere Pilger zelten da.
Schöne Stunden mit Stammgästen im charmanten Schmuddelcafé
Ein paar Kilometer nach Aumont-Aubrac hat jemand am Weg eine Schutzhütte errichtet, geschmückt mit Pilgermuscheln und ausgestattet mit einem weichen Bett aus Moos. Sollte ich in den nächsten Tagen keinen funktionierenden Geldautomaten finden, muss ich mir solche Unterkünfte suchen. Die bemalte Kapelle von Notre Dame von La Salette, nicht weit von La Chaze-de-Peyre, berührt mit ihrer Schlichtheit und Stille, sie bietet eine andere
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