Held von Garathorm
was mit ihren Waffen geschehen war und wie die Diebe ins Haus gelangt waren. Sie hörte ihre wütenden Schreie und war froh, daß sie noch einmal umgekehrt war, um die restlichen Flammenlanzen unschädlich zu machen. Hätten sie sie jetzt noch, wäre sie bereits tot.
Endlich hatte sie den hinteren Giebel erreicht und machte sich daran, zum Nachbarhaus zu springen. Es war die einzige Möglichkeit, noch zu entkommen.
Sie stieß sich mit aller Kraft ab und sprang ins Leere, die Hände nach der Giebelverzierung des nächsten Hauses ausgestreckt. Und tatsächlich gelang es ihr, die Finger um das kunstvolle Schnitzwerk zu klammern.
Doch es gab unter ihrem Gewicht nach. Sie hörte, wie es sich knarrend löste. Sie sah sich schon in die Tiefe stürzen, aber dann hielt die Giebelzier doch noch, und sie konnte sich hochziehen. Aber inzwischen hatte man sie wieder entdeckt. Erneut schwirrten die Pfeile auf sie zu. Hastig sprang sie auf das nächste, etwas nähere Haus. Mit Entsetzen wurde sie sich bewußt, daß sie so immer tiefer in die Stadt geriet. Wie sehr sie hoffte, ein Ast würde doch endlich weit genug herabhängen, daß sie ihn erreichen könnte. In den Bäumen hätte sie viel eher eine Chance zu entkommen. Doch inzwischen war es ihr ein Trost, daß ihre Kameraden sich in die entgegengesetzte Richtung mit den Flammenlanzen in Sicherheit bringen konnten.
Nach drei weiteren Dächern hatten ihre Verfolger sie zumindest für den Augenblick verloren. Aber es war ihr klar, daß ihre Gnadenfrist nicht lange währen würde.
Wenn sie ins Innere eines der Häuser gelangen und sich dort verstecken könnte, würde man annehmen, die Flucht wäre ihr geglückt. Gab man dann die Verfolgung auf, würde es nicht mehr so schwer sein, sich unbemerkt zu entfernen.
Sie sah ein unbeleuchtetes Haus ganz in der Nähe.
Ja, dort würde sie ihr Glück versuchen.
Sie sprang auf das andere Dach, kletterte über den Dachrand und von dort auf ein Fenstersims. Mit dem Jagdmesser öffnete sie die Fensterläden, kletterte ins Innere und zog die Läden hinter sich wieder zu.
Sie war müde. Der Kettenpanzer war schwer und drückte sie schier nieder. Sie wollte, sie hätte Zeit, ihn auszuziehen. Ohne ihn konnte sie höher springen und schneller klettern. Aber es war wohl zu spät, sich darüber Gedanken zu machen.
Das Zimmer, in dem sie nun stand, roch muffig, als wären die Fenster seit langem nicht mehr geöffnet worden. Als sie es durchqueren wollte, stieß sie ihr Knie gegen etwas Hartes. Eine Truhe? Ein Bett?
Und nun hörte sie ein würgendes Stöhnen.
Ilian spähte durch die Düsternis.
Jemand lag auf einem Bett - eine Frau!
Und sie war geknebelt und gefesselt!
War sie eine Garathormerin, die von einem der Invasoren gefangengehalten wurde? Ilian beugte sich über sie, um das Tuch, das als Knebel diente und straff um den Mund gespannt war, zu lösen.
„Wer seid Ihr?" flüsterte sie. „Habt keine Angst vor mir. Ich rette Euch, wenn es möglich ist, obgleich ich mich selbst in größter Gefahr befinde."
Ilian holte erschrocken Luft, als das Tuch ab war.
Sie erkannte das Gesicht.
Es war das Gesicht eines Geistes!
Grauen schüttelte sie. Ein Grauen, das sie sich nicht erklären könnt. Ein Grauen, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Denn obgleich sie das Gesicht kannte, wußte sie nicht, wem es gehörte.
Und genausowenig konnte sie sich erinnern, wo sie es je zuvor gesehen hatte.
Sie kämpfte gegen den Impuls an, die gefesselte Frau ihrem Schicksal zu überlassen und einfach davonzulaufen.
„Wer seid Ihr?" fragte die Fremde.
6.
DER FALSCHE HELD
Ilian gewann ihre Selbstbeherrschung zurück. Sie fand eine Lampe, Feuerstein und Zunder und zündete die Lampe an, während sie tief atmete und zu begreifen versuchte, was in ihr vorgegangen war. Der Schock, als sie die Gefangene erkannt hatte, war groß gewesen - und doch könnte sie schwören, daß sie diese Frau noch nie gesehen hatte.
Ilian drehte sich wieder zu ihr um. Die Fremde trug ein schmutziges, einst weißes Gewand. Ganz offensichtlich hielt man sie schon seit längerer Zeit hier gefangen. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Ihre Hände waren in einem komplizierten Lederharnisch auf die Brust gefesselt, der auch ihre Beine und den Hals band.
Ilian fragte sich, ob sie vielleicht eine Irre war, die man in diesen Zwangsharnisch hatte stecken müssen. Vielleicht war es sehr unüberlegt von ihr gewesen, sie einfach von dem Knebel zu befreien. Die Frau hatte einen wahrhaft wilden
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