Helden
Nummer 3: Keine Angst haben. Nie!
Regel Nummer 4: Leise sein.
Regel Nummer 5: Nicht weinen.
Regel Nummer 6: Geheimversteck einrichten.
Regel Nummer 7: Klappe halten.
Die Regeln waren gut. Ich las sie wieder und wieder. Ich las sie so oft, bis ich sie auswendig konnte. Dann steckte ich das Notizbuch in meine Jackentasche und zog die Korridortür leise hinter mir zu.
Draußen war der Sommer zurückgekommen. Der Himmel war dunkelblau und leer. Die Regenwolken waren verschwunden. Die Schmetterlinge saßen auf den Blüten des Sommerfliederstrauchs, die Mauersegler stürzten um die Hausecke und schrien »Sriii, sriii«. Aber das Beste war der Bahndamm, denn der Bahndamm war grün. Es war wie ein Wunder, er war einfach wieder grün.
Felix Vorhelm, Corinna Thiemann und ich standen vor Thiemanns Garage. Wir starrten auf den Bahndamm und konnten es nicht fassen.
»Donnerwetter«, sagte Felix und spuckte durch seine Zahnlücke.
Corinna hatte Tränen in den Augen.
Ich war so erleichtert, dass ich meinen lautesten Indianerschrei ausstieß.
Im gleichen Augenblick riss Fräulein Fontana das Fenster auf. »Geht’s auch ein bisschen leiser?«, schimpfte sie.
»Nein«, rief ich und zeigte auf den Bahndamm. »Sehen Sie doch mal. Alles ist wieder grün! Grühün!! Grüühüün!!!«, brüllte ich.
Fräulein Fontana schüttelte den Kopf und machte das Fenster wieder zu.
»Alte Hexe!«, sagte Felix. Seine Lippe war abgeschwollen, nur ein kleiner brauner Schorf erinnerte noch an die Prügelei mit Lukas.
Ich legte meinen Arm um Corinnas Schulter. »Alles wird gut«, sagte ich. »Jetzt wird alles gut. Bestimmt.«
Wir setzten uns auf die Bordsteinkante. Ich zog das Notizbuch aus der Jackentasche und wollte es Felix geben. Aber er riss es mir aus der Hand.
»Gib’s zu, du hast da drin gelesen.«
Ich merkte, wie ich rot wurde.
»Nur durchgeblättert«, sagte ich schnell.
»Du bist das Allerletzte!«
Felix sprang auf und ballte die Fäuste.
»Das ist mein Privatnotizbuch! Das ist geheim! Das ist obergeheim!«
Er wollte sich gerade auf mich stürzen, als Lukas Trietsch um die Ecke bog.
Lukas trat wie ein Wahnsinniger in die Pedale. Er brachte sein Fahrrad mit quietschenden Reifen zum Stehen. Felix drehte sich wütend um.
»Was willst du denn hier, Fettklops? Du hast doch Außendienst!«
Lukas keuchte und schnappte nach Luft.
Er hatte einen ganz roten Kopf, und der Schweiß lief ihm in die Augen.
»Was ist los?«, fragte Felix. »Nun sag schon.«
»Die Polizei ...«, keuchte Lukas. »Die Polizei ist bei Brüning. Ihr müsst schnell kommen!«
Felix starrte Lukas wortlos an.
»Was guckst du denn so? Begreif es doch, die holen den ab!«
Lukas’ Stimme überschlug sich vor Aufregung.
»Ich hab’s ja immer gewusst. Der hat den Brand gelegt. Der ist der Feuerteufel. Ehrlich, Leute, der ist hundertprozentig der Feuerteufel.«
Es war, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Es fühlte sich an wie in einem Fahrstuhl, der viel zu schnell abwärtsfährt. Ich spürte, wie sich ein riesengroßer Kloß in meinen Hals schob.
Corinna Thiemann war aufgesprungen. Sie hatte die Hand vor den Mund geschlagen, und ich sah, dass sie zitterte.
»Mensch, Leute, was ist denn? Jetzt kommt doch endlich!«
Lukas Trietsch hatte sein Fahrrad gewendet. »Ich fahr dann schon mal vor«, rief er. »Aber beeilt euch.«
»Scheiße«, sagte Felix und spuckte auf den Bürgersteig. »Wir müssen da hin. Wir müssen sofort da hin.«
11
Ich liege im Bett und warte. Die Laterne vor meinem Fenster malt ein Gardinenmuster an die Wand. Ich höre unten im Haus die Klospülung, dann ist es wieder still.
Draußen schreit eine Katze, sie schreit so, wie ein Baby schreit. Ein Fenster wird zugemacht. Vielleicht ist es eine von Minkas Jungen. Pünktchen oder Anton oder Schulze 1 oder 2. Die sind jetzt schon fast ausgewachsen, und Minka faucht, wenn sie ihr über den Weg laufen. Die jungen Katzen sind scheu. Wenn ich oder Corinna das Garagentor aufmachen, springen sie sofort auf die Winterreifen und verschwinden durch das geöffnete Fenster. Der Einzige, der sie locken kann, ist Felix. Wenn er die Luft durch seine Zahnlücke zieht und fiept, spitzen die jungen Katzen ihre Ohren, dann laufen sie zu ihm hin und reiben die Köpfe an seinen Beinen.
»Katzen vergessen nie. Die wissen, wer ihr Retter ist«, sagt Felix immer, und dann grinst er, weil er sich freut.
Gestern haben sie Herrn Brüning abgeholt. Vielleicht kann ich deshalb nicht
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