Heldensabbat
außer Atem, »sie haben Dr. Hartwig verhaftet. Heute morgen.«
Die Hiobsbotschaft beendet Fabers stumme Liebeserklärung an die eigene Frau. »Mein Gott«, erwidert er.
»Er hat viele Freunde in Mainbach«, sagt Sibylle. »Sogar bei der Justiz. Sie können ihn doch nicht einfach im Stich lassen.«
»Sie können ihm auch nicht helfen«, versetzt der Pädagoge rauh. Der Oberstabsarzt hat ihm empfohlen, sein Humpeln noch zu übertreiben, aber jetzt versucht er es vor Sibylle zu verbergen.
Sie merkt es und schüttelt den Kopf. »Es ist entsetzlich, Hans«, sagt sie, »aber manchmal wäre es mir lieber, sie hätten dir das Bein ganz weggeschossen.«
»Aber Sibylle –«
»Dann wüsste ich wenigstens, daß du den Krieg überstanden hast.«
»Viele werden ihn überstehen«, versucht sie der Reserveoffizier zu beruhigen, aber das gelingt ihm nur noch schwer. Früher war Sibylle seinen politischen Einwänden gefolgt, ohne sie recht zu begreifen. Inzwischen hat sie begriffen und bezahlt dieses Wissen mit Entmutigung und Furcht.
Mit zwei erfrorenen Ohrläppchen, drei erfrorenen Zehen und erfrorenen Illusionen, mit dem Verwundeten-Abzeichen, dem EK II und der Ostmedaille – von den Soldaten als ›Gefrier-Fleisch-Orden‹ verspottet – kehrt FJ-Unteroffizier Stefan Hartwig, hervorragend von seiner Fronteinheit beurteilt, auf die Kriegsschule zurück, um auch hier gleich wieder der Beste zu werden. Als besondere Auszeichnung darf er bei der Abschiedsfeier beim Oberst am Tisch sitzen. Stefan nutzt die Chance und bittet ihn darum, ganz zum Panzerregiment 35 versetzt zu werden.
»Ich kann das zwar nicht entscheiden«, erwidert der Chef der Kriegsschule, »aber ich denke doch, daß es keine besonderen Schwierigkeiten geben wird.« Er lächelt. »Weiß schon, die Fünfunddreißiger liegen in Mainbach in Garnison.«
Wenige Tage vor der Ankunft des Einundzwanzigjährigen in der Heimatstadt wurde sein Onkel Dr. Wolfgang Hartwig nach vierwöchiger Haft in die Berliner Strafanstalt Tegel verlegt, da nach vielerlei vergeblichen Versuchen der örtlichen Justiz, eine Haftverschonung für den Rechtsanwalt zu erwirken, der Volksgerichtshof – sprich Reichsanwalt Rindsfell – den Fall an sich gezogen hat.
Mainbachs Bahnhof hatte Stefan auch schon vor den bitteren Kriegsabschiedsszenen für eines der häßlichsten Gebäude der Stadt gehalten. Niemand empfängt ihn; seine Eltern wissen nicht, daß er drei Wochen Urlaub erhalten hat, und so entspricht seine Ankunft nicht den Erwartungen von einst. Zwar trägt er als Oberfähnrich bereits eine Offiziersuniform und ist auch schon dekoriert, aber Claudia, sein Mädchen, heiratet demnächst einen anderen Mann, der noch dazu fünfzehn Jahre älter ist als er; sein verhafteter Onkel Wolf wurde in eine Strafanstalt nach Berlin verlegt, und vor Kummer darüber droht seinem Vater ein Nervenzusammenbruch. Noch hat der Urlauber mehr Mitleid mit seinem Vater als mit dessen Bruder. Seiner Meinung nach hätte der Jurist eben vorsichtiger sein müssen. Schließlich ist stadtbekannt, daß er den Braunen niemals grün war. Stefan ist entschlossen, seinen Vater aufzurichten, Claudia aus dem Weg zu gehen und den Mainbachern vorzuführen, daß er noch immer der Erste ist und sich beim Zusammenbruch der Front vor Moskau bestens gehalten hat.
Vor dem Gabelmann-Brunnen steigt der Urlauber aus dem Taxi, schnappt sich seinen Koffer, geht über die Straße auf das Haushaltswarengeschäft zu, über dem seine Eltern auch wohnen. Nachbarn erkennen ihn, winken ihm zu, rufen ihn an.
Stefan nickt zerstreut und geht achtlos weiter.
Mutter steht im Hausgang, als hätte sie ihn erwartet. »Ich hab' gewußt, daß du kommen wirst, Bub«, sagt sie und zieht ihn aufgeregt an sich.
»Du hast mit der Kriegsschule telefoniert?«
»Nein«, erwidert die stille Frau mit dem offenen Gesicht, »ich habe es geträumt.«
»Ist Vater im Geschäft?« fragt Stefan.
»Nein, er liegt zu Bett, Lungenentzündung. Aber die Krise ist schon überstanden«, setzt Isolde Hartwig hastig hinzu. »Er ist nicht sehr widerstandsfähig, das hängt alles mit dieser schrecklichen Geschichte zusammen.« Sie betrachtet ihren Einzigen, zugleich stolz und besorgt. »Wie lange darfst du bleiben?«
»Lange genug, um Vater zu reparieren«, entgegnet er.
Isolde Hartwig nickt und lächelt versonnen: Das ist der alte Was-kostet-die-Welt-Stefan, ein optimistischer Herausforderer, unbekümmert, zupackend, stets über den Dingen. Der Junge ist dünn
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