Heldensabbat
stürzte er zu Boden. Dann drängte er sich aus dem Kreis der Zuhörer nach hinten. Er lief weg wie Judas nach der versuchten Rückgabe der dreißig Silberlinge.
Meine Augen suchten und fanden den Postinspektor Reblein. »Die Akten sind ein Bilderbuch des Dritten Reiches«, fuhr ich fort, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. »So leben Menschen unter uns, die nur aus Tarnungsgründen keiner Parteigliederung angehört und oppositionelle Mitbürger bespitzelt haben, oft sogar auf Volksfesten, wenn sie in bierseliger Laune waren.«
Reblein stand es nicht durch. Er wollte seinen Abgang unauffällig wählen, aber die hinter ihm Stehenden, die begriffen hatten, wen ich meinte, schlossen sich eng zusammen. Er mußte die Flucht nach vorne antreten; jeder erfasste sein Schuldgeständnis mit den Beinen.
Die Urne wurde in die Gruft gesenkt, das Grab geschlossen. Die Trauergemeinde verlief sich, löste sich in kleine Gruppen auf, die erregt mein Verhalten diskutierten.
»Verzeih mir, Tante Marie-Luise«, wandte ich mich an die Witwe, für die die Prozedur eine Tortur gewesen sein mußte, die sie nur ihrem Mann zuliebe durchgestanden hatte.
»Es ist alles in Ordnung, Stefan«, erwiderte sie. »Du warst sehr hart, doch nicht ohne Grund.«
»Kommen Sie, Frau Hartwig«, sagte Captain Stone, um sie und Adele mit dem Wagen nach Hause zu fahren. Er drehte sich nach mir um. »Gratuliere, Stefan. Du bist ein Mittelstürmer geblieben.«
Claus Benz reichte mir die Hand. »Ich will mich nur darauf beschränken: Ich hab' Hans Faber wiedererkannt – er hat aus deinem Mund gesprochen.«
»Na, Stefan«, sagte Müller I, Mitschüler und Steuermann des Regattaachters, »für dich ist wohl der Krieg noch nicht zu Ende.«
»Die Müllabfuhr des Krieges«, erwiderte ich.
»Du warst prima«, entgegnete er. »Aber so etwas sagt man nicht in Mainbach. Nicht in aller Öffentlichkeit.«
»Warum?« fuhr ich ihn an.
»Reg dich nicht auf. Ich steh' doch auf deiner Seite.«
Endlich herrschte wieder die Ruhe, die sich für einen Friedhof gehört. Ich war jetzt allein mit dem, was von Wolfgang Hartwig geblieben war. Ich kam mit ihm zu einem Zwiegespräch. Auch ich hatte ihm einiges abzubitten.
Eine Hand schob sich behutsam in meinen Arm.
Ich wandte mich um.
Es war Claudia. »Komm, Stefan«, sagte sie.
Wir liefen nebeneinander her.
»Du hast mir schon immer gefallen, aber noch nie so gut wie heute«, sagte sie.
»Ich hab' dir damals nicht geschrieben«, entgegnete ich hastig, »als dein Mann gefallen ist.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hab' dich schon verstanden«, erwiderte die junge Ärztin.
Vielleicht traf es sich ganz gut, daß sie als Medizinerin arbeitete: Irgendwie war ich noch immer Patient.
Wir verließen den Friedhof, gingen zurück in die Stadt. Das harte Pflaster wurde auf einmal weich wie eine Blumenwiese. Der frühe Herbst überraschte uns mit dem späten Frühling unserer Zweisamkeit. Arm in Arm gingen wir weiter, unsere Schatten hatten sich in der Abendsonne schon zu einem Umriss vereint. Ich spürte, daß noch heute das Spiel Romeo und Claudia enden würde.
Wir waren nicht mehr dieselben wie in der Zeit der Blütenträume, aber vielleicht hatten wir uns verbessert. Wir standen in der Hainstraße, rechts ging es in den paradiesischen Naturpark, links zu Claudias Wohnung, aber es war kein Scheideweg, und vor diesem Hauseingang wollte ich auch nie mehr umkehren.
Wir hielten uns an den Händen und hörten so unsere Herzen schlagen. Endlose Jahre hatten die Sehnsucht aufgetürmt, wir würden lange brauchen, sie abzubauen, und es vielleicht nie ganz schaffen.
Einen Moment lang blieben wir in der Tür stehen, eines überwältigt vom anderen. Wir brauchten nichts zu sagen, nichts zu fragen.
Es mußte Liebe sein.
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