Heldensabbat
geworden und reif. Schon ein richtiger Mann, aber er hat sich offensichtlich Naturell und Persönlichkeit erhalten.
»Ich schau' mal, wie es unserem Patienten geht«, sagt sie. Entgegen ihrer sonst ein wenig zurückhaltenden Art umarmt die Mutter den Heimkehrer zum zweiten Mal, und er macht sich nicht steif, weil ein deutscher Junge – hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder – keine Gefühle zeigen darf, es sei denn Haß. »Mein Gott, bin ich glücklich, daß du da bist«, sagt Isolde Hartwig. »Aber ich hab' der heiligen Kunigunda schon mindestens zwanzig Kerzen geopfert. Ich weiß, du lachst mich aus, aber glaub mir, Bub, unsere Stadtheilige läßt sich nichts schenken.« Sie stellt fest, daß Stefan sie zum ersten Mal nicht verspottet, sondern ernsthaft nickt.
»Ich hab' von ihr geträumt, Mutter«, erwidert er. »Ich war am Erfrieren, aber Kunigunda hat mich warm gehalten.«
Die Mutter öffnet die Schlafzimmertüre lautlos einen Spalt und stellt fest, daß der Patient wieder wach ist. »Ich hab' eine Patentmedizin für dich, Friedrich«, sagt sie und läßt den Jungen mit seinem Vater allein.
Stefan setzt sich ans Bett, hält die Hand des Patienten. »Mutter sagt, daß es dir jetzt schon viel besser geht«, beginnt er und betrachtet besorgt das eingefallene Gesicht.
»Der Arzt behauptet es auch«, versetzt der Haushaltswarenhändler. »Aber dieses Verhängnis mit meinem Bruder macht mir sehr zu schaffen. Wir haben alles versucht, um ihn freizubekommen. Hoffnungslos.« Er atmet schwer. »Stell dir vor, sie wollen seinen Kopf.«
»Noch ist es ja nicht so weit«, erwidert der Oberfähnrich und ergänzt mit falscher Zuversicht: »Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Vielleicht kannst du als Fähnleinführer etwas für Wolfgang tun.«
»Natürlich«, entgegnet Stefan. »Ich war ja mal eine große Nummer in Mainbach.«
»Du bist es doch wohl noch«, konstatiert der Alte. »Deine Mutter ist übrigens sehr gefaßt und tapfer.«
»Find' ich großartig«, versetzt der Primus. »Und wie hältst du dich?«
»Na ja, Wolf ist mein Bruder, und du weißt, wie stolz ich auf ihn bin.«
»Wir werden die Sache schon deichseln«, verspricht der Urlauber. Er möchte den Vater nicht überanstrengen, nickt ihm aufmunternd zu, schiebt sich aus dem Schlafzimmer.
»Wie findest du Vater?« fragt Mutter ängstlich.
»Na ja«, erwidert ihr Einziger. »Es ist ja auch ein Scheißspiel.«
»Und es wird alles noch viel schlimmer kommen«, erklärt Isolde Hartwig. »Onkel Wolfgang hat Freunde und Feinde, aber die Feinde sind viel mächtiger als seine Freunde.« Sie dämpft die Stimme. »Es ist eine richtige Treibjagd, die sie gegen ihn veranstalten. Die haben seit Jahren darauf gewartet, Marie-Luise kämpft zwar wie eine Löwin um ihren Mann.« Sie sieht zum Schlafzimmer hin und dämpft ihre Stimme noch mehr. »Sie ist mit der kleinen Adele nach Berlin gefahren. Du solltest sie nach ihrer Rückkehr aufsuchen.«
»Mach' ich natürlich«, erwidert Stefan betreten.
In den ersten beiden Tagen erweist sich der Urlauber – entgegen seiner Art – als ein richtiger Stubenhocker. Er verläßt kaum die elterliche Wohnung. An einem Ort von der überschaubaren Größe Mainbachs weiß man meistens besser, wie es dem Nächsten geht als sich selbst. Und Stefan ist Mitleid genauso zuwider wie Schadenfreude.
Der dritte Urlaubstag ist der 19. April. Die Zeitung bringt die fünfte Todesanzeige eines Mitschülers, des sommersprossigen Heinrichsbauer, der beim entscheidenden Fußball-Match zwischen der 8 a und der 8 c zwei Tore geschossen hat. Nicht nur die Größe der Anzeige und der Erscheinungstag werden von der Gauleitung vorgeschrieben, sondern auch der Text: »Für Führer, Volk und Vaterland.« Es erscheint dem Oberfähnrich stereotyp, pathetisch und verlogen. Der lange Ottonianer aus der Parallelklasse, den Stefan eigentlich nur auf dem Fußballfeld näher kennengelernt hatte, wollte Geistlicher werden, und die Bewegung und die Kirche sind seit Jahren aneinandergeraten.
Zwar ist erst morgen des Führers dreiundfünfzigster Geburtstag, aber die Pimpfe, BDM-Mädchen und Hitlerjungen üben schon heute die Gratulationsparade. Gegen Mittag wummern die Trommeln, schmettern die Fanfaren, marschieren die Jugendeinheiten der Partei durch die Stadt, proben einen der NS-Feiertage, die Stefan einst mit besonderem Hochgefühl zelebriert hat.
Heute verfehlt der militante Rhythmus seinen Nerv. Der Fronturlauber steht am Fenster und sieht in junge Gesichter, in
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