Heldensabbat
denen eine Begeisterung schwimmt, wie sie bei 53 Grad unter Null erfriert oder von russischen Panzerketten zermalmt wird. Sie können nichts dafür, sie sind so, wie er gewesen ist und sein wollte. Und nach Russland kommen sie noch früh genug, um den Unterschied zwischen Trommelwirbel und Trommelfeuer zu erfassen.
Die Spitze der Kolonnen, die zum Maxplatz ziehen, passiert den Obstmarkt. Stefan hastet aus dem Hauseingang. Er gesteht es sich nicht ein, aber er flüchtet irgendwohin, wo der Marschtritt gedämpfter und das Fanfarengeschmetter verhaltener ist. Er landet auf der Unteren Brücke und steht unvermittelt der Kunigunda-Statue gegenüber. Er bleibt stehen, sieht zu ihr auf, nickt der Kaiserin mit der Goldkrone und dem goldenen Zepter zu. Vielleicht hat sie ihn wirklich gerettet; wenn nicht, möchte er ihr wenigstens für ihr Lächeln danken und dafür, daß Mutter so fest an sie glaubt und dadurch stark ist. Jetzt stellt Stefan fest, daß ihr vollmundiges Lächeln für eine Heilige eigentlich reichlich irdisch wirkt.
Als früherer Primus des Gymnasiums weiß der Abiturient natürlich, daß Kunigunda mit Kaiser Heinrich in Josefsehe gelebt hat, auch wenn bis zum Jahr 1784 ihr steinerner Gemahl auf der Unteren Brücke nicht von ihrer Seite gewichen ist. Dann war er von dem gewaltigen Hochwasser in die Regnitz gerissen worden. Die Stadtheilige blieb künftig allein, doch nicht einsam inmitten einer Stadt, die ihr der kaiserliche Gemahl einst zur Hochzeit geschenkt hatte.
Stefan kehrt um und schlendert zum Obstmarkt zurück. Unterwegs wird er ein paarmal von Bekannten angeredet. Er spricht mit Leuten, die er nicht bewußt wahrnimmt, über Dinge, die ihn nicht interessieren.
»Hallo, Stefan!« ruft ihn dann eine vertraute Stimme an.
Er fährt herum: Es ist Claudia. Ihre Blondhaare münden nicht mehr in einer Rolle; sie fallen lang auf die Schultern. In ihren Vergißmeinnicht-Augen sind immer noch grüne Sprenkel.
»Warum meldest du dich nicht, wenn du Urlaub hast?« fragt ihn die Medizinstudentin.
»Bist du nicht eine Braut in festen Händen?« kontert er patzig.
»Sind wir nicht Freunde?« entgegnet sie. »Oder zumindest ehemalige Klassenkameraden?«
»Das sind wir«, entgegnet er hölzern, verwirrt. Claudia ist schöner denn je und nicht mehr wie ein biederes Schulmädchen gekleidet; sie ist vorteilhaft angezogen, reizvoll, verführerisch.
Claudia betrachtet ihn ausgiebig und ungeniert. »Nun ja«, stellt sie fest. »Bald Leutnant – die ersten Orden auf der Uniformbrust. Du siehst prächtig aus, Stefan. Wie einer, der alles erreicht hat, was er wollte.«
»Du doch auch«, versetzt Stefan angriff ig. »Eine gehorsame Tochter ihrer Eltern. Vom weiblichen RAD verschont, Physikum wahrscheinlich schon in der Tasche.«
»Mit Auszeichnung sogar.«
»– und einen Mann, auf den du nicht mehr zu warten brauchst«, ergänzt er.
»Du grollst mir also«, analysiert Claudia.
»Das nicht«, erwidert Stefan.
»Sondern?«
»Wir haben beide nicht alles erreicht, was wir wollten«, versetzt er und wirkt nachdenklich. »Unsere Blütenträume waren doch ganz anders.«
»Du hast recht«, entgegnet Claudia. »Und vielleicht auch viel schöner.« Sie zitiert: »Die Erinnerung ist ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«
»Jean Paul«, stellt der frühere Primus fest.
Der Spielmannszug des Jungvolks zieht an ihnen vorbei. Einige starren neidvoll und sehnsüchtig den Oberfähnrich an, die schicke Uniform, die Auszeichnungen, das hübsche Mädchen neben ihm. Die Trommler hauen auf das Kalbfell ein, daß Stefan schmerzlich das Gesicht verzieht.
»Deine Begeisterung für Aufmärsche hat sich abgekühlt?« fragt Claudia belustigt.
»Nicht, wenn du nach den Veranstaltungen mit mir auf unsere Bank in den Hain gehst«, erwidert der Urlauber.
»Wenn du mich darum bittest –«
»Und dein Verlobter?«
»– ist in Erlangen.«
»Und deine Eltern?«
»– sind verreist«, erwidert die Studentin. »Sturmfrei.«
Stefan betrachtet sie mißtrauisch, aus Furcht, daß sie ihn veralbert. Er ist verunsichert, vergleicht Claudia mit Lydia; Claudia schneidet besser ab, aber Lydia wird siegen. Er steht in einem lockeren Briefverkehr mit ihr, aber wenn er am Ende seines Urlaubs mit der jungen Frau aus Stettin zusammenkommt, werden sie sich drei Tage lang auf der Lustwiese ineinander verkeilen wie die Walfische.
»Komm, lad mich zu einer Tasse Kaffee ein«, übernimmt seine erste Liebe die Initiative.
Sie
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