Heldensabbat
Paradies.
Seine Zähne sind gesund genug, um herzhaft in den Apfel zu beißen. Goethe hatte auch eine Schwäche für gebundene Frauen. Er vergleicht sich nicht mit dem Dichterfürsten, aber verdammt noch mal, Lydia ist mit einem RAD-Heini verheiratet und Claudia mit diesem physikalischen Knilch verlobt, und ihm bleibt nur die Wahl: Verzicht oder verbotene Frucht. Schon in seiner großen Zeit als HJ-Führer hatten Stefan die gestohlenen Äpfel immer am besten gemundet.
In diesem Moment erkennt ihn Greifer, der Bannführer, sagt etwas zu Eisenfuß, erhebt sich zögernd, geht auf die beiden zu. Mit jedem Schritt wird Greifers Lächeln definierbarer. »Mensch, Stefan, freu' ich mich, dich zu sehen«, begrüßt er ihn. »Schlimm, der Scheiß mit deinem Onkel, aber das hat mit uns beiden nichts zu tun.« Er betrachtet die Auszeichnungen auf Stefans Waffenrock. »Wie ich sehe, hast du dich an der Front auch schon bewährt.«
»Ich schon«, entgegnet der Urlauber grinsend. »Und demnächst im gleichen Theater.«
»Ich hab' mich schon zweimal zum Barras gemeldet«, behauptet der Hauptamtliche und läuft rot an wie ein Mädchen in der ersten Tanzstunde. »Aber die Militärärzte wollen mich nicht nehmen – ich hab' was an der Leber.«
»Kommt vom Saufen«, erwidert Stefan. »Mach dir nichts draus. Mit den Russen werden wir auch ohne dich fertig.«
»Da hab' ich keinen Zweifel«, quittiert Greifer die Ohrfeige pikiert und tritt den Rückzug an.
»Aber ich«, murmelt Stefan und sieht dem Bannführer nach.
Eisenfuß winkt den Oberfähnrich an den Tisch; Stefan macht, ihn mißverstehend, eine Ehrenbezeigung im Sitzen. Dann setzt er sich neben Claudia, legt den Arm um ihre Schulter, als wolle er der Tafelrunde vorführen, daß er Wichtigeres zu tun habe.
Claudia hat einen Schwips; auch Stefan ist benebelt und will weitermachen, aber einen dritten Bocksbeutel verweigert ihnen der Ober nun doch, obwohl ihm der Oberfähnrich ein fürstliches Trinkgeld in Aussicht stellt.
Arm in Arm verlassen die beiden das romantische Restaurant und ziehen vom Schönleinsplatz durch die Adolf-Hitler-Straße zum Hotel ›Drei Kronen‹ weiter. Gleichzeitig erblicken sie den ehemaligen Mitschüler, der wie verloren am Eingang der Generalsgasse steht. Stefan weiß, daß Müller I gleich um die Ecke wohnt – sie waren fast Nachbarn. »Komm mit«, sagt er. »Ich lad' dich ein.«
»Wohin?«
»In die ›Drei Kronen‹-Bar. Du brauchst mir nichts zu erklären, Alfred«, kommt er Müller I zuvor. »Ich weiß alles, und es tut mir schrecklich leid – unter Männern nimmt man in solchen Fällen einen Durchhalteschluck.«
»Aber ich zahle selbst«, sagt der Unteroffizier in Zivil, einst der Kleinste der Klasse; hatte wohl auch keine Gelegenheit gehabt, seine Frontzulage auszugeben.
In der kleinen intimen Bar zeigt Stefan nicht ganz die feine Lebensart. Der hausgemachte Cocktail heißt »Schneegestöber«, – ein Gemisch aus Wacholderschnaps, Zitronensaft, Angostura und Zucker –, und den schüttet er entschlossen in sich hinein.
»Pfui Teufel, schmeckt das gut«, sagt Müller I und lächelt zum ersten Mal ein wenig.
»Du mußt dich beeilen«, ermuntert ihn Stefan. »Wir sind dir schon weit voraus.«
»Seid ihr beiden wieder zusammen?« fragt der ehemalige Mitschüler.
»Heute Abend schon«, entgegnet Stefan, und Claudia nickt.
»Ihr seid wohl auch füreinander bestimmt«, stellt der ehemalige Steuermann, nun auch schon nach dem dritten »Schneegestöber«, fest.
»Ja, ja«, versetzt der einstige Primus melancholisch, »Bestimmung ist nur ein anderes Wort für Schicksal.«
Sie trinken weiter, bis aus dem »Schneegestöber« ein Schneesturm wird. Schließlich haben sie die Erinnerung an vier gefallene Mitschüler zu begießen, wenn man großzügig auch noch Braubach dazu rechnet. Sie tun es der Reihe nach: Rolf, abgeschossen über Griechenland; Rainer Ramm, tödlich verwundet bei Smolensk. Auch auf Heinrichsbauer nehmen sie einen Schluck, obwohl er in der 8 a war. Der Vierte aus ihren Reihen ist Parvus, der Musensohn, der Konzertpianist werden wollte.
»Gefallen bei Kiew«, sagt Stefan.
»Falsch«, erwidert Alfred Müller, »da wurde ihm nur der rechte Arm von einer Granate weggerissen. Als er am Hauptverbandsplatz wieder zu sich kam, hat er sich eine Kugel in den Kopf gejagt, weil der Traum seines Lebens zu Ende war. Die Todesanzeige wurde dann frisiert –«
»Scheiße«, sagt Stefan, trinkt und sieht, wie Müller I jetzt Wasser
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