Heldensabbat
ich an die Kriegsschule zurückkommandiert wurde, besaß unsere Panzerabteilung kein einziges Fahrzeug mehr«, berichtet der Urlauber.
»Ich weiß, was sich abgespielt hat«, erwidert der Rekonvaleszent. »Und wenn ich noch mehr erfahren möchte, dann brauche ich nur in Ihr Gesicht zu sehen, Stefan.« Faber legt die Hand auf seine Schulter, sieht ihn voll an. »Sie sind älter geworden, aber es schadet Ihnen nicht.« Mit dem Gespür des Erziehers erfasst der Gastgeber, daß sich Stefan nicht nur äußerlich zu seinem Vorteil verändert hat: Der frühere Fähnleinführer wirkt reifer, kühler, nachdenklicher. Sein Damaskus muß vor Moskau liegen.
»Schlimm, Ihre Verwundung?« fragt der Oberfähnrich und vermeidet, den Mann im Hausmantel mit dem Titel anzusprechen. Lächerlich, soll er jetzt ›Herr Oberleutnant‹ zu ihm sagen und Haltung annehmen oder ›Herr Doktor‹ und sich dabei überlegen, mit welchen Fallstricken der Germanist im Unterricht wieder arbeiten wird?
»Nein«, entgegnet der Reserveoffizier. »So gut wie ausgeheilt, soweit es bei einer solchen Verletzung möglich ist. Der Knochen am linken Bein ist etwas verkürzt worden, so werde ich halt künftig in unreiner Gangart laufen müssen.«
»Das tut mir leid«, erwidert Stefan. »Und Sie waren ein so phantastischer Hochspringer.«
»War ich das?« versetzt der Philologe belustigt. Er sieht, daß sein Musterschüler – und Kontrahent – an Worten kaut, die ihm nicht leicht fallen.
»Ich muß Ihnen etwas sagen«, springt Stefan wie mit einem Ruck ins kalte Wasser. »Ich habe inzwischen einiges begriffen. Sie wollten uns nicht wie Betrunkene in den Krieg rennen lassen, Herr Doktor –«
»Das stimmt«, versetzt der Reserveoberleutnant. »Ich war der Meinung, daß diese Politik zum Krieg führt, und wollte euch warnen, so gut oder so schlecht es ging.«
»Ich glaub', ich muß Ihnen danken für Ihren Unterricht. Ich weiß, was Sie riskiert haben. Ich brauche da nur an meinen Onkel zu denken.« Stefan missachtet seinen eigenen Vorsatz, ohne es zu merken. »Ich war ja mal Klassensprecher«, fährt er fort, »und so danke ich Ihnen auch im Namen meiner vier Klassenkameraden, die inzwischen gefallen sind.«
Einen Moment lang wirkt die Stille bedrückend. Der Mann mit der hohen Stirn und den klaren Augen, der immer geradlinig und immer sicher wirkt, ist erstmals verwirrt, fast verstört.
»Natürlich konnten wir Sie nicht verstehen, aber bewundert haben wir Sie immer«, gesteht Stefan. »Und ich muß Ihnen sagen, daß ich mir in vielen Dingen die Bewegung anders vorgestellt habe … Es gibt – es gibt fürchterliche Nationalsozialisten«, ringt er sich ab und denkt an Panofsky und die Szene mit dem kleinen Judenmädchen, dessen Augen ihn verfolgen, noch immer und immer wieder.
»Sie können nicht erfassen, Stefan, was mir Ihre Worte bedeuten«, erwidert Hans Faber. Das Sprechen fällt ihm schwer.
Sibylle kommt aus dem Nebenzimmer und legt den Arm um ihn, sieht ihn an. Sie begreift instinktiv, wie erschüttert ihr Mann sein muß.
»Ich habe mich oft gefragt«, fährt der frühere Ordinarius fort, »ob ich nicht ein Narr bin, ein Amokläufer, ob ich das soll, ob ich das überhaupt darf.« Er sieht einen Moment ins Leere. »Ich mußte einfach – ich sah den Krieg kommen, den Wahnsinn …«
»Bitte missverstehen Sie mich nicht, Herr Doktor«, antwortet Stefan. »Ich bin kein Renegat. Ich habe nur die politische Orientierung verloren. Ich bin heute weder Fleisch noch Fisch. Genau das, was ich früher gehasst habe und auch heute noch nicht ausstehen kann.«
»Sie waren der Intelligenteste der Klasse«, erwidert Faber lächelnd. »Die Klugen begreifen immer zuerst, die Dümmeren später und die ganz Dummen vielleicht nie.« Er schenkt dem Oberfähnrich ein zweites Glas ein.
»Es ist absurd«, sagt der Junge auf einmal. »Ich weiß nicht recht, wie ich Sie jetzt ansprechen soll: Herr Doktor oder Herr Oberleutnant oder Herr Doktor Oberleutnant?«
»Nenn mich einfach Hans, Stefan«, entgegnet der Ordinarius und reicht seinem früheren Primus die Hand.
»Soll ich – darf ich – ich darf du zu Ihnen sagen?« fragt der Junge aufgelöst.
»Wie zu meiner Frau«, erwidert der frühere Klassenleiter und nickt Sibylle zu. »Schließlich sind wir ja auch Regimentskameraden.«
Eine halbe Stunde später geleitet Sibylle den Besucher an die Tür. »Mensch, Stefan, du weißt nicht, was deine Worte für meinen Mann bedeuten. Vielen, vielen
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