Heldensabbat
wenn sie einmal Milde walten lassen sollten und einen Angeklagten für einen Witz nur zu fünf oder acht Jahren Zuchthaus verurteilen, kann der Oberreichsanwalt noch ein Jahr nach Eintritt der Rechtsgültigkeit den Spruch aufheben und neu festsetzen. Auch wenn der Oberreichsanwalt darauf verzichten sollte, dürfen Beauftragte des Reichssicherheitshauptamtes den Verurteilten ohne Angabe von Gründen in der Strafanstalt abholen und in ein KZ mit oder ohne Hinweis auf ›baldige Erledigung‹ einweisen.
Die Berliner Strafanstalten sind überfüllt. Es gibt keinen Unterschied zwischen Untersuchungshäftlingen und Verurteilten. Das herkömmliche Bewachungspersonal, das oft abgestumpft, aber wenigstens fachlich ausgebildet war, wurde größtenteils zur Wehrmacht eingezogen und durch untaugliche und nicht selten unmenschliche Hilfswachtmeister ersetzt.
Sie unterschlagen gelegentlich den Gefangenen das kärgliche Essen oder verweigern Medikamente mit den Worten: »Dir wird ja sowieso die Rübe abgehackt.« Der geistliche Beistand bei Hinrichtungen ist auf fünf Minuten begrenzt oder wird – wie zum Beispiel bei den Verurteilten der Widerstandsgruppe ›Rote Kapelle‹ – überhaupt verweigert. Zwei Körper müssen aus Ersparnisgründen in einen Sarg, der um ein Viertel verkürzt ist, weil Geköpfte keine normale Körperlänge mehr haben.
Wer sterben muß, erfährt es in der Regel erst zwei Stunden vorher. Die Delinquenten – nur selten Kriminelle – werden dann mit solcher Eile aus den Zellen gerissen, daß einmal ein Verwaltungsoberinspektor in Plötzensee die Namen verwechselt und vier Gefangene versehentlich exekutieren läßt. Ein Dienststrafverfahren bleibt dem Überforderten erspart; es geht für den Beamten mit einer ›ernsthaften Verwarnung‹ ab.
In der Strafanstalt Moabit gerät Rechtsanwalt Hartwig in einen Bombenangriff. Die Gefängnismauern sind zerstört, die Bewacher in Deckung, er könnte im Durcheinander fliehen, aber er zieht es vor, sich um einen Schwerverletzten zu kümmern.
Plötzensee ist eine Vollzugsanstalt. Hier wird die – laut Preußischem Vollstreckungsgesetz vom 1. August 1933 – ›ernsteste staatliche Hoheitsbetätigung‹ wie am Fließband vollzogen. »Großschlachttage« nennt der evangelische Anstaltsgeistliche die Massenexekutionen an Schwarzsehern, Schwarzhörern, Schwarzhändlern und Schwarzschlächtern, an Bibelforschern und Missliebigen aller Art. An einem einzigen Tag standen dreihundert Verurteilte auf der Hinrichtungsliste. Nach der hundertsechsundachtzigsten Vollstreckung machten der abgebrühte Henker und seine Gehilfen schlapp; hundertvierzehn Todeskandidaten mussten einen Tag länger auf die ›ernsteste staatliche Hoheitsbetätigung‹ warten.
Im September besuchte Marie-Luise Hartwig ihren Mann zum vierten Mal. Er weiß, welche seelischen wie physischen Strapazen die Reise nach Berlin für sie bedeutet. Er bittet seine Frau, Besuche künftig zu unterlassen, setzt aber im gleichen Moment hinzu, daß sie sein einziger Lichtblick seien. Die Anklageschrift steht vor der Fertigstellung. Alle Bemühungen, eine Einstellung des Verfahrens ohne Verhandlung zu erreichen – sie werden, zumindest inoffiziell, von der Mainbacher Gerichtsbehörde unterstützt –, sind gescheitert. Die Vernehmungen, zu denen der Gefangene in schweren Handschellen vorgeführt wird, lassen erkennen, daß es dem Reichsanwalt Rindsfell nicht um die Ahndung eines Deliktes geht, sondern um die Auslöschung einer moralisch-politischen Persönlichkeit.
Ein Jahr vor Hitlers Machtantritt war Dr. Hartwig in einer Wahlversammlung der Bayerischen Volkspartei als Redner aufgetreten. Zufällig hatte der Ortsgeistliche die jungen Burschen gegen die Nazis aufgehetzt, und sie hatten den späteren Nazigauleiter – ohne Zutun des Rechtsanwalts – eine Treppe hinuntergeworfen. Auch das soll jetzt geahndet werden. Die Munition zu dem Verfahren kommt aus Mainbach und wird laufend durch die Kreisleitung und die SD-Außenstelle ergänzt.
Es geht dem Häftling so schlecht, daß er bis zur Verhandlung des Volksgerichtshofes in die Krankenabteilung des Potsdamer Gefängnisses eingeliefert und hier wenigstens ärztlich betreut wird. Trotz seiner miserablen körperlichen Verfassung denkt der Angeschuldigte klar. Als Christ fügt er sich in sein Schicksal. Als Jurist weiß er, daß die Gerichtsverhandlung nur eine Farce sein wird. Als Familienvater zwingt er sich mit unmenschlicher Anstrengung zum Kampf um das
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