Heldensabbat
und Rotz über das Gesicht laufen. Der Damm ist gebrochen. Er muß sprechen, und die beiden wissen, daß es ihn erleichtert, und lassen es über sich ergehen, bekommen selbst nasse Augen von Schnaps und Mitleid.
Sie gehen erst, als sie hinausgeworfen werden. Sie hängen sich beieinander ein, sie müssen es auch, denn keiner steht mehr auf sicheren Beinen. Die frische Luft haut sie fast um, als sie Müller I nach Hause geleiten. Die falsche Fröhlichkeit fällt von ihnen ab.
Auf einmal erfasst den Unteroffizier ein wilder Zorn. »Ich sag' euch«, beginnt er ganz leise und brüllt auf einmal durch die Nacht, »wenn meine Mutter stirbt, dann soll auch der Führer verrecken – verrecken der Hund, der Hitler.«
»Schrei doch nicht so«, sagt Claudia, und Stefan hält ihm den Mund zu. Doch zum Glück sind die Gratulanten des Führers, die Alfreds unlogischen Ausbruch hören, ebenfalls besoffen. Die beiden setzen den Mitschüler zu Hause ab. Dann gehen sie weiter, stumm, Arm in Arm. Im gleichen Schritt. Im selben Takt. Es ist, als liefen sie zweieinhalb Jahre zurück und aufeinander zu.
»Gehen wir noch in den Hain?« fragt Stefan.
»Gehen wir zu mir«, erwidert Claudia.
»Du meinst –«
Sie bleibt stehen, legt ihren Arm um den Jugendfreund, preßt sich gegen ihn. Sie spüren beide eine Stichflamme, die wie eine helle Lohe über ihnen zusammenschlägt. Sie küssen sich wie nie zuvor, außer Atem, überwältigt von Begehren – und auch von Alkohol.
Claudia läßt es darauf ankommen. Die Aufforderung an Stefan ist eine Herausforderung an ihre Mutter, ein Versuch, die Vernunft über Bord zu werfen und doch noch den Romantiker dem Realisten vorzuziehen.
Sie haben die Villa erreicht. Claudia sperrt auf.
»Nein«, sagt Stefan mit gepresster Stimme. »Ich komm' nicht mit, Claudia.«
»Was hast du denn?«
»Vielleicht bin ich nicht frei«, entgegnet er. »Oder meinst du, ich hab' zweieinhalb Jahre in Sack und Asche vertan?« Er handelt in Suff und Trotz, Edelmut und Alkohol, aber vielleicht bricht auch nur seine angeborene Ritterlichkeit durch, will er eine Situation nicht ausnutzen. Er steht noch fünf Minuten vor der Tür, als Claudia längst ins Haus geschlüpft ist.
Dann stapft er durch die Hainstraße zurück, klopft sich für seine Noblesse selbst auf die Schulter und hält sich dabei für den größten Trottel auf Erden.
Am nächsten Morgen ruft ihn Claudia an und bedankt sich bei ihm überschwänglich. »Du bist ein feiner Kerl, Stefan – ich hab' dich immer noch sehr gern«, stellt sie fest. »Eigentlich noch viel mehr.«
»Schon gut«, knurrt er und legt auf.
Er sieht Claudia nicht mehr in diesem Urlaub, der so rasch zusammenschmilzt.
Täglich besucht der Oberfähnrich jetzt die Fabers, führt lange Gespräche mit Mathilde Bertram, die froh ist, sich mit ihm über Rolf unterhalten zu können. Er sucht auch Tante Marie-Luise auf, als sie mit minimaler Hoffnung aus Berlin zurückgekommen ist. Stefan weiß nicht, was er ihr sagen soll. Manche Mainbacher verschwinden jetzt auf die andere Straßenseite, wenn sie der Frau mit dem verhärmten Gesicht begegnen, andere drängen sich an sie heran, um sie nicht allein zu lassen. Stets ist Stefans Tante umspült von menschlichem Mut wie menschlichem Versagen, von Selbstlosigkeit und Opportunismus. Und die kleine Adele begreift gar nichts. Die Mutter macht ihr Hoffnung, daß der Vater bald wieder nach Hause kommen wird.
Stefans Vater ist wieder auf den Beinen, aber zu der Angst um seinen Bruder kommt jetzt noch die Sorge um den Sohn, je näher es auf seinen Abschied zugeht.
Stefan umarmt seine Mutter. »Keine Angst, Mama«, sagt er wie ein Verschwörer. »Denk nur an die heilige Kunigunda – und vergiß die Kerzen nicht.«
Daß er die letzten drei Urlaubstage für Lydia reserviert hat, gesteht er den Eltern freilich nicht. Er fährt über Berlin nach Stettin, sitzt endlos im Zug und gesteht sich ein, daß er Claudia liebt, doch gleichzeitig Lydia, wenn auch ganz anders. Der Oberfähnrich wird wieder putzmunter, als er am Stettiner Bahnhof ankommt. Es ist ihm piepegal, ob Lydias Mann, der RAD-Heini, da ist oder nicht. Schluß mit dem Edelmut, ab jetzt arbeitet er mit harten Bandagen!
Stefan klingelt. Nichts rührt sich. Er hat sich zwar schon vor einer Woche angesagt, aber nicht auf den Tag genau festgelegt. Er wartet und hofft, daß Lydia nur einkaufen ist.
Sie kommt nicht.
»Auf die brauchen Sie nicht zu warten«, sagt ein Nachbar mit einem hämischen
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