Heldensabbat
vor?«
»Ihre Eltern leben in der Schweiz; Sie sind gebürtige Schweizerin. Wenn Sie damit drohen, die Paßverweigerung dort in der Presse publik zu machen, fallen die um. Noch gerieren sich diese Rabauken im Ausland als brave Unschuldslämmchen. Mit Peter – Stefan nennt ihn ja Tarzan – ist es schwieriger. Vermutlich steht er bereits unter Wehrüberwachung.«
»Er wird erst im nächsten Jahr für die Wehrmacht gemustert werden.«
»Gehen Sie zu Rechtsanwalt Flodt«, empfiehlt Hartwig.
»Zu einem Blutordensträger?« erwidert die Besucherin entsetzt.
»Dann zu meinem Kollegen Vollhals.«
»Aber der ist doch ein schrecklicher Opportunist.«
»Richtig. Genau einen solchen brauchen Sie jetzt und in diesem Fall. Entschuldigen Sie«, sagt er, steht auf und geht ein paar Schritte hin und her. »Einen, der mit diesen Parteibonzen herumsäuft, der ihnen in den Hintern kriecht und ihre faulen Geschichten ausbügelt, falls sie ruchbar werden.« Er lächelt maliziös. »Eine Hand wäscht die andere, und so bleiben sie alle dreckig.«
»Mein Gott«, erwidert Maria Steinbeil. »Mir wird jetzt schon übel.«
»Das gibt sich wieder, wenn Sie erst die gesunde Luft der Alpenrepublik atmen«, erwidert der Anwalt trocken.»Am besten«, setzt er sarkastisch hinzu, »bieten Sie freiwillig eine größere Spende für das Winterhilfswerk oder so etwas Ähnliches an.« Er bleibt stehen und beugt sich zu seiner Nachbarin herab. »Letzte Möglichkeit, vor Torschluss noch ins Ausland zu kommen. Und das ist keine Frage des Geschmacks, sondern des Überlebens. Der Kriegsausbruch ist nur eine Frage der Zeit.«
»So schwarz sehen Sie, Doktor?«
»Noch schwärzer«, entgegnet Wolf Hartwig. »Beherzigen Sie meinen Rat: Wenden Sie jedes Mittel an, um so rasch wie möglich neue Pässe zu bekommen. Fahren Sie mit Gott – und mit Ihrem Sohn – und kommen Sie um Gottes willen nicht zurück, bis dieser braune Spuk hier vorbei ist. Lassen Sie Peter das Abitur in der Schweiz machen.«
Sie prosten einander stumm zu.
Vom Domberg her wehen verzerrte Silben über die alten Dächer der Stadt.
Der Reichsjugendführer hat das Wort ergriffen.
Domplatz: Vor der überwältigenden Kulisse der Geschichte steht ein Wall aus Menschenleibern – junge, straffe BDM-Mädchen und biegsame Hitlerjungen als lebende Bausteine sauber ausgerichteter Formationen. Architektur aus Menschenmauern, das Individuum als Masse. Fanfaren schmettern. Flackriger Fackelschein taucht gläubige Gesichter mit leuchtenden Augen in Hell und Dunkel.
Das Rednerpult des Mannes, der die Wimpelweihe vornehmen wird, steht unweit der Säule aus dem 11. Jahrhundert, auf der angezeigt war, daß der deutsche Kaiser Heinrich Mainbach zum Mittelpunkt des Weltalls – caput orbis – erhoben hatte. Mainbach, die Stadt der sieben Hügel, das deutsche Rom, verträumt und anmutig, uralt und jung wie nie zuvor, ist ein Schauplatz der Geschichte, der ihre Irrungen und Wirrungen, Niederlagen und Siege gelassen überlebt hat.
Stefan Hartwig steht vor der Front der Mädchen, zuerst ergriffen, dann wie berauscht. Er saugt die Worte des Reichsjugendführers in sich auf wie eine Sonnenblume den Morgentau. Voll kostet er das Glück, einer so großen Zeit anzugehören, die stückweise den Schandvertrag von Versailles liquidiert. Der Führer hat soeben Österreich heimgeholt ins Reich. Statt vor den Schaltern Schlange zu stehen um das Stempelgeld, fährt der deutsche Arbeiter heute nach Italien und ins Mittelmeer. Demnächst stehen 3000 Kilometer Autobahn, über die bald die Volkswagen rollen werden. Durch Mainbach rasseln die Kampfwagen der neuen Panzertruppe. Deutschland ist nicht mehr schwach, sondern stark wie nie zuvor. Lernte er nicht in der Lateinstunde: Si vis pacem, para bellum – Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg?
Als Stefan an die Schule denkt, sieht er im letzten Glied der Ehrentribüne seinen Oberstudiendirektor Dr. Schütz, heute nicht im altmodischen Zivilanzug mit den Vatermördern und Hochwasserhosen, sondern in der Uniform eines SA-Obertruppführers. Die Jungen nennen den Anstaltsleiter »Rex«. Schütz gebärdet sich wie ein flammender Patriot, aber so ganz trauen sie ihm nicht, sie wissen, daß der Rex ein Märzveilchen ist, wie man Parteimitglieder nennt, die sich der NSDAP erst 1933 anschlossen, als diese bereits ohne sie gesiegt hatte. Aber immerhin hat der Oberstudiendirektor – damals rangmäßig weit tiefer stehend – früher den Weg zur NSDAP gefunden als
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