Heldensabbat
Rückfall in den Sumpf, aus dem der Nationalsozialismus das deutsche Volk gezogen hat.
Der Spielmannszug verfällt wieder in einen Trommelwirbel. Der Schall bricht sich an den Fassaden der Häuser, von denen fünfzehnhundert älter als zwei Jahrzehnte sind. Lydia, die dunkelhaarige Mädelschaftsführerin aus Stettin, kommt neben dem Fähnleinführer ins Stolpern, droht zu fallen. Zwangsläufig fängt sie Stefan auf, mit klammen Armen. Die Hand mit der Fackel streckt er so weit wie möglich von sich, aber der Feuerschein ist hell genug, um die Blamage auszuleuchten. Einen Moment lang spürt er das Mädchen sanft und weich an seiner Uniformbrust, sieht das Lächeln ihrer aufgeworfenen Lippen, die weißen, leicht auseinanderstehenden Zähne.
»Danke«, flüstert Lydia, und Stefan schiebt die Frühreife von sich weg wie unnötigen Ballast: Er wird überflutet von Gefühlen, die ihn aus dem Takt bringen und das Marschieren schwermachen.
Er geht in allem auf, was er tut, in der Schule wie in der Hitlerjugend. Stefan und sein Rivale Peter Steinbeil, ein vierschrötiger, kräftiger Typ, den sie »Tarzan« nennen, stellen abwechselnd den Primus der Klasse, und beide sind auch die weitaus Besten im Sport, aber Stefan fährt in den Ferien in das HJ-Sommerlager, um sich auch hier zu bewähren. Tarzan besucht seine Großeltern in der Schweiz, statt der Staatsjugend zu dienen. Als einziger Schüler gehört Peter nicht der Hitlerjugend an, und trotz seines Unmuts ist Stefan darüber nicht ganz unglücklich: Wenn er im Braunhemd vor der Front seines sauber ausgerichteten Fähnleins steht, braucht er den Konkurrenten nicht zu fürchten. Freilich ist er schon ein paarmal an Peter Steinbeil geraten; die Auseinandersetzungen endeten mit Schrammen und Beulen unentschieden, und ganz kann es der Fähnleinführer mit seinem Rivalen nicht verderben, denn Tarzan ist ein hervorragender Mittelstürmer, und als Spielführer braucht er ihn, wenn er die Schulmeisterschaft im Fußball für die 7 c gewinnen will.
Die Kolonne, an deren Seite er geht, hat den Absatz des großen Aufmarschplatzes erreicht. Im Rücken wird er von der Neuen Residenz begrenzt. Ihr gegenüber liegt die alte Hofhaltung, die mit steinernem Fuß mitten in der Geschichte steht. Und links daneben zeigt der Dom der Fahnenweihe die steinerne Schulter.
In diesem Moment sieht Stefan den alten Mann. Er ist klein und schmächtig, trägt einen Spazierstock unter dem Arm und staunt mit offener Neugierde die BDM-Mädchen an. Er lächelt dabei wehmütig, fast als dächte er: Schade, zu meiner Zeit trugen die jungen Mädchen noch lange Röcke. Aber dafür brauchten sie auch nicht zu marschieren. Da kommst du nicht mehr mit, da bist du eben schon zu alt.
Er steht auf gleicher Höhe mit den Fahnen, und er wechselt nicht den Spazierstock von der Rechten in die Linke.
Er lächelt noch immer.
Da springt Stefan aus der Reihe, hastet auf den Alten zu und schreit: »Haben Sie die Fahne nicht gesehen? Können Sie nicht grüßen?«
Der Mann schüttelt den Kopf. Ein paar Zuschauer im Hintergrund murmeln. Eine Frau ruft: »Haut doch dem Bengel ein paar hinter die Ohren!«
Die Kolonne hält. Die Ordnung löst sich auf. Alle starren die Szene an. Da packt Stefan den Alten am Arm, zieht ihn ein paar Meter auf die Fahne zu, läßt ihn los und sagt: »Los, grüßen Sie!«
Der Mann begreift nicht.
»Sie sollen grüßen!«
Der Spazierstock zittert. Der Alte sieht verlegen nach der Seite, als hoffe er auf Hilfe. Er schüttelt den Kopf. Dann hebt er die Hand. Sein Gesicht wird über und über rot.
Er dreht sich um und geht mit müden, schleppenden Schritten.
Stefan hastet wieder an seinen Platz zurück. »Gleichschritt marsch!« befiehlt er.
Mit blassem Gesicht marschiert er wieder an der Seite der Mädchen. Er sieht weder ihre bewundernden Blicke noch die bösen Augen der Umstehenden. Er bemerkt auch nicht den Mann, der die Szene beobachtet und wie ein Fremder mit hochgeschlagenem Trenchcoat-Kragen langsam weitergeht: Dr. Faber, Klassenleiter der 7 c.
Der Sternmarsch der BDM-Formationen verlangsamt sich in der Altstadt wie in einem Flaschenhals, staut sich vom Fuß des Dombergs zurück bis zum Alten Rathaus. Die Trommler und Pfeifer der Spielmannszüge nutzen die Verzögerung zu einem militanten Platzkonzert. Das alte Gemäuer verstärkt es zu einem Höllenlärm, der gedämpft auch noch im südlichen Mainbach zu hören ist, wo in der Dientzenhoferstraße, nahe dem Priesterseminar, die von
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