Heldensabbat
Hitze des Tages wie ein Backofen gespeichert. Viele Mainbacher schwingen sich aufs Fahrrad und flüchten, durchaus unpolitisch, vor Temperatur, Trommelwirbel, Staub und Fackelaufmarsch in die Landgaststätten der Umgebung. Aber manche – sonst Bierselige – bleiben heute auch zu Hause, um das spätabendliche Spektakel zu genießen: Hübsche Mädchen – und die meisten von ihnen sind es – sieht jeder gerne, selbst wenn sie Uniform tragen.
Mit Beginn der Dunkelheit quellen die Maiden aus Privatquartieren und Massenunterkünften in den Schulen zu den Sammelplätzen wie die Rundungen aus ihren BDM-Blusen: Sie sind weiß wie die Unschuld, ihre Röcke dunkel wie die Nacht, ihre Schuhe so flach wie der Text ihrer Lieder. Sie formieren sich zu Kolonnen, bewegen die Beine gleichmäßig, mitunter zu schnell oder zu langsam, nicht mit der Präzision einer Marschkolonne und schon gar nicht mit der Disziplin eines Balletts.
Der Singsang ihrer hellen Stimmen klingt dünn. Der Fackelschein huscht über die unbeschriebenen Gesichter der BDM-Führerinnen, der Elite des »Bundes deutscher Mädel«, den gleichaltrige Hitlerjungen häufig ungalant als ›Bund dummer Motten‹ verspotten.
Jeweils im Spätsommer kommen sie aus allen Teilen Deutschlands in die ehrwürdige Kaiser- und Bischofsstadt Mainbach, die selbst fünf Jahre nach der Machtergreifung noch keine braune Hochburg geworden ist. Die Parade von »Glaube und Schönheit«, von flatternden Wimpeln, von klappernden Absätzen, von wippenden Busen, von wehenden Haaren, von glänzenden Augen ist eine Nebenveranstaltung der Reichsparteitage, denn das von NS-Heerscharen überfüllte Nürnberg hat für die vierzehn- bis achtzehnjährigen ›Mütter von morgen‹ keinen Platz. Die Wimpel, die an diesem Sommerabend des Jahres 1938 in Mainbach geweiht werden sollen, schaukeln an dünnen, über den Schultern getragenen Speeren wie Dreiecksbadehosen.
Die Innenstadt überzieht sich mit dem Rot der lodernden Fackeln – sie riecht nach Pech und Schwefel. Die Fassaden der alten Fachwerkhäuser in den winkeligen Gassen scheinen zu glühen. Nur die hohen Giebel stehen dunkel und unbewegt über der nächtlichen Schau. Der Aufmarsch wird auf dem Domplatz enden, der so alt ist, wie das Tausendjährige Reich seine Lebensdauer vorausprahlt.
Die Kolonnen der singenden Mädchen werden von Hitlerjungen eskortiert. Rechts und links der dreireihigen Ordnung gehen ausgesuchte Jungvolkführer in gemessenen Abständen als Schützer und Ritter. Auf ihren Fahrtenmessern steht: »Blut und Ehre«, ein Wahlspruch, der für ihre Generation bald zu Blut und Blei werden wird. Auf ihren Gesichtern spiegelt sich nicht nur der Feuerschein der Fackeln. Je nach ihrer körperlichen Reife leuchtet aus ihren Augen die Wichtigkeit des Auftrags oder die Lust, die Mädchen von der Seite anzustarren. Die einen spüren die Größe der Zeit, die anderen spüren etwas ganz anderes und überlegen, wie sie an die Mädchen herankommen können, die sie vor männlichen Belästigungen schützen sollen.
»Unsere Fahne flattert uns voran, unsere Fahne ist die neue Zeit«, singen die Mädchen. »Unsere Fahne führt uns in die Ewigkeit, ja die Fahne ist mehr als der Tod.«
Der Fähnleinführer Stefan Hartwig, siebzehn Jahre alt, in einem Jahr Abiturient des Gymnasiums, sieht eisern geradeaus. Er hat die sonst vollen Lippen schmal zusammengepresst, die Schultern leicht hochgezogen, als schritte er durch Regen. Er ärgert sich.
Für ihn ist das Herlaufen neben dem BDM eine Tortur. Er hört die witzelnden Bemerkungen der Zuschauer auf den Gehsteigen oder aus den Fenstern, die halb gutmütigen, halb bissigen Zurufe an die Mädchen. Und die Leute wollen vor Lachen platzen. Daß er dagegen nichts unternehmen kann, macht Stefan Hartwig zornig.
Die Straßen wirken fast leer. Der Bedarf an Umzügen ist im Jahre 1938 bei der deutschen Bevölkerung ziemlich gedeckt. Und viele der Menschen, die den Mädchen begegnen, verschwinden schnell in einem Hauseingang, bevor eine der Fahnen vorbeigetragen wird. Die Embleme des Dritten Reiches sind mit entblößtem Kopf und erhobener rechter Hand zu grüßen. Vor dieser Pflicht laufen sie davon. Auch darüber ärgert sich Stefan. Denn er nimmt den nächtlichen Pomp mit dem gläubigen Ernst seiner siebzehn Jahre.
Er haßt Schleicherei. Er verachtet alles, was er nicht fassen, nicht greifen kann. Die gutmütige oder böswillige Opposition gegen die BDM-Wimpel ist für ihn Verrat, Dummheit und
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