Heldensabbat
der eigene Vater, dieser alte Zögerer. Vielleicht wird man so, wenn man sein Leben lang Haushaltswaren einkauft und verkauft, kalkuliert und sich dabei doch verrechnet, anstatt Führer, Volk und Reich als Idealist zu dienen. Dabei muß der Fähnleinführer noch froh sein, daß Vater nicht so borniert ist wie der von ihm gehasste und doch auch bewunderte Onkel Wolf, Mainbachs führender Rechtsanwalt. Immerhin spricht für Vaters Bruder, daß er im Ersten Weltkrieg das EK I erworben hat, genauso wie der Führer; umso weniger kann der Fähnleinführer begreifen, daß sich der Jurist mit Vorliebe gegen die Bewegung stellt, wo der Führer doch alle seine Versprechungen gehalten hat. Die völkische Erneuerung ist eben in erster Linie eine Sache der Jugend. Stefan spürt, daß noch viel Erziehungsarbeit bei der alten Generation zu bewältigen ist, vor allem in einer Stadt wie Mainbach, deren Grundfarbe trotz aller braunen Flecken noch immer schwarz ist. Wir werden es schaffen, sagt sich der heißgelaufene Idealist. Vor allem und persönlich werde ich Dr. Wolf Hartwig schaffen, meinen Onkel, den bekannten Rechtsanwalt.
»Ihr seid die Garanten unserer Zukunft!« ruft der Reichsjugendführer in das Mikrophon. »Mit euch bauen wir das neue Deutschland. Das ewige!«
Die Fanfaren schmettern ein Fortissimo. Die Scheinwerfer verfolgen den Reichsjugendführer, als er jetzt die Front der Mädchen abschreitet und die Wimpel anfaßt, um ihnen die Weihe zu geben. Hinter ihm der Gauleiter, der Gebietsführer, der Kreisleiter und andere Hoheitsträger. Aus der ersten NS-Garnitur ist nur Baidur von Schirach anwesend, und selbst der hat es eilig, wieder zum Reichsparteitag nach Nürnberg zurückzukehren. Kunststück, wo sich der Führer aufhält, scheint die Sonne.
In Mainbach scheint sie zwar auch, aber hierher kam Adolf Hitler noch nie seit der Machtergreifung und – so befürchtet Stefan – wird er auch niemals kommen. Er mag Mainbach nicht, und der Volksmund behauptet, er habe vor 1933 bei einer Veranstaltung einmal ein Abortfenster als Notausgang benutzen müssen. Es kann stimmen oder auch nicht, verbürgt ist, daß Dr. Josef Goebbels in der frühen Kampfzeit, bevor er des Führers treuester Gefolgsmann wurde, hier auf einer Parteitagung den Ausschluß ›des Bourgeois Adolf Hitler aus der NSDAP‹ gefordert hatte.
Unter stürmischen Heilrufen steigt der Reichsjugendführer in seinen Wagen und fährt ab. Singend setzen sich die BDM-Einheiten in Marsch. Die Fackeln sind zu kleinen Stummeln niedergebrannt und verlöschen ganz. Stefans Jungzugführer und Mitschüler Benno Metzger – dick, faul und gefräßig – nutzt die Gelegenheit, mit den Mädchen herumzuschäkern. Stefan bemerkt es und handelt sofort: Mit einem Satz macht er sich an Benno heran und tritt ihm den Fuß in den Hintern, daß der Junge vor den Mädchen zu Boden geht. Unter ihrem Gelächter rappelt er sich wieder hoch, blamiert bis auf die Knochen. Wütend stellt er sich gegen seinen Fähnleinführer.
»Führ meine Befehle aus, oder ich mach' dich fertig!« droht Stefan.
Langsam nimmt der Gescholtene Haltung an. Die Mädchen bewundern den Einheitsführer mit der Führerschnur, die sie »Affenschaukel« nennen.
Er spürt es und wächst nach oben. Einer wie er wird sich an jedem Ort bewähren, an den man ihn stellt: in der Schule, beim HJ-Dienst, zu Hause und beim Sport. In spätestens zehn Monaten Abitur, und dann in weiteren zwei Jahren Leutnant, aber das würde er auch in achtzehn Monaten schaffen, wenn nicht dieser verdammte Reichsarbeitsdienst dazwischen läge – so wird er sich eben auch beim RAD bewähren.
»Du bist hier wohl der Leitwolf?« fragt Lydia, das Mädchen mit den Glutaugen und den schwarzen Haaren. Sie ist überhaupt nicht Stefans Typ, doch nicht ohne Reize für ihn.
»Ich bin Fähnleinführer und Leiter des Einsatzes Wunderburg-Schule«, weist er sie zurecht, »und aus der Marschkolonne wird nicht geplaudert.«
Trotz betonten Diensteifers muß Stefan grinsen, weil er sieht, wie sich der Dicke vor ihm den Hintern reibt. Die BDM-Einheit passiert den Justizpalast und marschiert über die Marienbrücke in den Südosten der Stadt zur zweckentfremdeten Volksschule. Die Bänke wurden aus den Klassenzimmern geräumt und durch Strohmatten ersetzt; je zehn Mädchen nächtigen in einem Raum. Die Quartiere bieten reichlich Platz. Nur vor den Waschräumen und Toiletten kommt es zu Engpässen. Das Lehrerzimmer hat Stefan in eine Wachstube
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