Heldensabbat
dort keiner, der sich gegen eine solche Schweinerei gestellt hat?«
»Etliche«, versicherte Kalle. »Und sie haben gehandelt und spielten der französischen Presse Informationen zu. Die übelste Kreatur geriet zwischen die Schlagzeilen. Bevor der Skandal richtig platzte, war der Bursche auf einmal von der CIC wieder eingefangen. Er wurde der War Crime Division zur Aburteilung übergeben.« Er setzte hinzu: »Diese Lösung war zwar ein wenig holperig, aber überzeugend.«
Peter wirkte nachdenklich. Dann klopfte er Kalle auf die Schulter. »Du bist auch ein Glücksfall«, sagte er, »und nicht nur für Sibylle, Hänschen und die Firma ›Bertrag‹.«
»Na also«, alberte der massive Pragmatiker, »nicht verzagen, Bongo fragen.«
Ein paar Tage später lud uns Captain Stone zum Abendessen ein. Er hatte einen Gast: Jim Rafferty, einen bekannten Kolumnisten von der ›Washington Post‹. Er unternahm einen Europatrip und veröffentlichte seine Eindrücke in Fortsetzungen. Der Journalist sprach ausgezeichnet Deutsch, er war kein Emigrant, sondern der frühere Deutschlandkorrespondent amerikanischer Zeitungen in Berlin. Dieser Umstand erleichterte uns nicht nur die sprachliche Verständigung.
»Ich lasse euch jetzt allein«, sagte unser Gastgeber und zog sich zurück.
Zuerst berichtete Kalle über seine Eindrücke und Erlebnisse in Lyon; dann war ich an der Reihe, und es war, als sähe ich in seinen großen dunklen Augen, die mich immer wieder angesehen hatten, Zustimmung. Ich schilderte dem Amerikaner die schreckliche Mordaktion. Jim Rafferty merkte, wie schwer die Erinnerung an mir hing, und unterbrach mich kein einziges Mal. Ich gab ihm noch die Adresse des Unteroffiziers Boldt, den er als weiteren Zeugen aufsuchen wollte. Der Journalist bedankte und verabschiedete sich; er war in Eile.
Peter Stone kam zurück. Er nickte uns zu. »Ihr habt Jim Rafferty zu denken gegeben«, stellte er fest. »Vielleicht klappt Kalles Patentlösung.«
Zehn Tage später fand die Spruchkammerverhandlung gegen den Rex des Gymnasiums, den Oberstudiendirektor Dr. Schütz, statt, und das wollten wir uns nicht entgehen lassen. Im Justizpalast, dem Sitz einer sogenannten Gerechtigkeit, gab es zur Zeit viele freie Säle. Nach dem Einmarsch der Amerikaner waren zweihunderteinundneunzig Richter und Staatsanwälte und – neben fünfundsiebzig Angestellten – auch fünfhundertsechsundsiebzig Beamte des unteren, mittleren und gehobenen Dienstes entlassen worden, unter ihnen auch solche, die in den Schwurgerichtsakten Hartwigs als Fürsprecher eine rühmliche Rolle gespielt hatten.
Aber die Besatzungsmacht machte keine Unterschiede, und so war beim Zusammenbruch viel mehr zu Bruch gegangen als sämtliche Fensterscheiben des neoklassizistischen Justizpalastes. Hinter dem häßlichen Kunstwort »denazification« verbarg sich ein tölpelhafter und oberflächlicher Säuberungsversuch, der unter der Papierflut einfach ersticken mußte.
Alle wurden in einen Topf geworfen: die Erpresser und die Erpressten, die großen Nazis wie die kleinen Fische, die Aktivisten wie die Mitläufer. Im Laufe der Vernehmungen merkten die Besatzungsoffiziere natürlich, daß es zwischen den formal gleichermaßen Belasteten beträchtliche Unterschiede gab und daß ein Berufsverbot für die in die Partei Gepressten zumindest problematisch war – aber Amerika kennt kein Berufsbeamtentum, deshalb begriffen die Säuberungsoffiziere die Verzweiflung vieler nicht. Wenn in den Staaten einer gefeuert wird, ist das keine besondere Tragödie, der Entlassene sucht sich eben den nächsten Job.
Der Saal der Spruchkammer war überfüllt, meistens von Zuschauern, die Erfahrungen für ihren eigenen Auftritt als Beschuldigte sammelten. Dank Captain Stone, der – taktvoll, wie er war – in Zivil erschien, erhielten wir Plätze auf der dem Zuhörerraum vorgelagerten Pressebank.
Die erste Verhandlung hatte sich in die Länge gezogen. Wir interessierten uns für die dritte, gerieten jetzt aber in die zweite öffentliche Anklage gegen den Parteigenossen, Reichsbahnoberinspektor und Blockwart Breuer, den Beamten ohne Makel, der einunddreißig Jahre lang seiner Behörde redlich gedient hatte, im vierundzwanzigsten aber von seinem – inzwischen verstorbenen – Chef mit Nachdruck als letzter zum Parteieintritt gezwungen worden war.
»Ich habe gezögert«, sagte Breuer. »Ich hab' mich sogar ein paar Tage krank gemeldet, zum ersten Mal übrigens, aber das war kein Ausweg. Ich
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